Fliehganzleis
Gründen den Adelsnamen abgelegt. Genaues wusste ich nicht. Ich arbeitete im Labor und hatte wenig mit Dr. Roth zu tun. Aber wenn wir uns über den Weg liefen, schien es, als gäbe es ein tiefes Einverständnis zwischen uns.«
Ich sah zu Juliane hinüber. Sie sah aus wie aus dem Ei gepellt mit ihrem Raspelhaar, dem T-Shirt, auf dem das Yin-Yang-Symbol abgebildet war, und der weiten Marlene-Hose.
»Vom Frühjahr 1967 an trafen wir uns in der Mittagspause manchmal zum Rauchen im Klinikhof. Das geschah zuerst ganz zufällig, aber nach und nach gewöhnten wir uns an die paar Minuten an der frischen Luft. Im Hof wuchs ein Kirschbaum, ein wahres Prachtexemplar. Ich sehe heute noch die weißen Blüten, die der Wind Ende April von den Zweigen blies. Stört es Sie, wenn ich rauche?«
»Nein«, sagte ich. »Ich nehme auch eine.«
Juliane sah mich vorwurfsvoll an.
»Entschuldigen Sie, ich habe Ihnen nichts angeboten. Wie … kann ich … möchten Sie Orangensaft?«
»Machen Sie sich keine Umstände«, sagte Juliane warmherzig. Wenn sie ein Lächeln verschenkte, fraß man ihr aus der Hand.
Dagmar Seipert hielt mir eine Schachtel Lord Extra hin. »Also«, sie nahm einen tiefen Zug und legte das Feuerzeug beiseite, »dort unten im Hof konnten wir sprechen. Ohne Lauscher. Man sah zwei Frauen, die nebeneinander hockten, rauchten, plauderten. Und so kam es, dass wir allmählich Mut fassten, uns über die Gängelungen und politischen Zumutungen auszutauschen, die wir tagtäglich erfuhren. Eines Tages, ich weiß nicht mehr, wann, sagte ich zu Dr. Roth: ›Was denken Sie, ist es möglich, abzuhauen?‹ Sie sah mich nicht einmal an, rauchte weiter, bis zum Filter, stippte die Kippe in den Aschenbecher und sagte: ›Ich bin innerlich schon weg.‹« Dagmar Seipert seufzte. »Das war ein neuer Anfang in unserer Beziehung. Wochenlang wagten wir nicht, noch einmal darüber zu reden. Ich reduzierte die Rauchpausen im Hof. Aus Vorsicht. Ich hatte Angst, mich zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Vielleicht war Dr. Roth ein Spitzel. Man konnte ja nie wissen, ob man nur aus der Reserve gelockt wurde, um dann«, sie fuhr mit der Handkante über ihre Kehle, »Sie wissen schon.«
»Ihre Absicht, die DDR zu verlassen, wurde schließlich konkreter?«, erkundigte ich mich, nachdem Dagmar eine Weile nichts gesagt hatte. Sie stand auf und kippte das Fenster. Der Straßenlärm schlug gegen unsere Trommelfelle. »Gab es einen konkreten Anlass, warum Sie fliehen wollten?«
»Es kamen ein paar Dinge zusammen, über die ich nie sprechen werde.« Rasch drehte sie sich zu mir um. In ihren Augen standen Hass, Abscheu, Ekel. »Ich konnte die täglichen kleinen Schikanen nicht ertragen, die permanente Beobachtung, unter der wir alle standen, ich hatte es satt, privat ein anderer Mensch zu sein als der, den ich nach außen zeigte. Ich hatte einen Cousin im Westen. Der kam zu Besuch, und ich vertraute mich ihm an. Richard. Vor zwei Jahren ist er gestorben.«
Denkpause.
»Richard war ein Freund von Gerrit Binder, den Sie ja schon kennengelernt haben«, erzählte Dagmar weiter. »Er war mein Antragsteller. So nannten wir das. Um Fluchthilfe in Anspruch zu nehmen, brauchte man eine Gewährsperson im Westen. Jemanden, der den Kontakt zu den Fluchthelfern herstellte, das Honorar vorstreckte. Der dafür bürgte, dass der Fluchtwillige kein Stasi-Spitzel war, dass er es ernst meinte. Richard machte das für mich. Im Februar 1968 erhielt ich Besuch von einem Kurier, der mir die Flucht in einem LKW anpries. Es gäbe ein Versteck zwischen Fahrerkabine und Ladefläche, alles todsicher. Man hätte sogar die Ladefläche nach hinten verlängert, damit sie die genormte Länge besaß und die Grenzer auch dann keine Diskrepanz feststellten, wenn sie nachmaßen. Am riskantesten würde der Zustieg sein, warnte man mich. Der LKW mit einem Westkennzeichen, der von der Bundesrepublik Richtung Westberlin in die DDR eingereist war, durfte ja die Autobahnen nicht verlassen. Obwohl man mir gesagt hatte, es gebe auch präparierte Fluchtwagen mit einem Wechselautomatismus, der das Westkennzeichen auf Knopfdruck gegen ein DDR -Nummernschild austauschte.« Sie sog tief den Rauch ein, ihre Wangen spannten sich. »1968, vor dem Transitabkommen, war der Durchgangsverkehr noch nicht vernünftig geregelt, es gab ständig Schikanen an den Grenzen. Erst 1971, mit dem Viermächteabkommen, wurde es einfacher. Zumindest für die Leute aus dem Westen, für die DDR -Bürger nicht.« Dagmar
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