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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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Seipert rieb sich die Stirn.
    »Warum haben Sie es nicht an einem Parkplatz versucht?«, fragte Juliane.
    »Vollkommen unmöglich. Die Parkplätze standen unter Beobachtung. Rentner besserten sich ihre Bezüge auf, indem sie dort herumschnüffelten. Also blieb nur, eine Panne vorzutäuschen. Der Flucht- LKW hielt auf dem Standstreifen, der Fahrer stieg aus, bastelte an irgendwas herum. Die Flüchtlinge wurden von einem Läufer in die Nähe dieser Stelle gebracht. Riskant genug, denn die Volkspolizei war auch nicht blöd und schaute genau hin, wenn ein LKW auf dem Seitenstreifen stand.«
    Dagmar Seipert drückte die Zigarette aus, langsam, mit Nachdruck, presste immer wieder den Zeigefinger auf die Kippe.
    »Mit mir zusammen sollten noch zwei andere Frauen fliehen. Zwei Schwestern. Ich hatte sie nie zuvor gesehen und wurde panisch, als ich daran dachte, dass ich mit zwei völlig Unbekannten in einem engen Loch zusammengepfercht über die Grenze fahren sollte.« Sie nahm sich eine neue Zigarette. Ich schüttelte den Kopf, als sie mir anbot.
    »Also«, das Feuerzeug klickte, »es war Frühling. Eine dunkle Nacht, nicht tintenschwarz. Aber auch nicht hell. Neumond. Wir pirschten uns unter der Führung des Läufers durch ein Maisfeld an den LKW heran. Erich hatte mich zuvor zweimal aufgesucht, mir die Vorgehensweise erklärt und mir eingebläut, wie ich mich zu verhalten hätte. Er hat mir auch eine Geschichte ins Gedächtnis diktiert, die ich im Falle einer Verhaftung erzählen sollte. Das war mein Glück. Wir wurden geschnappt. Einem Autofahrer war der LKW aufgefallen. Er verständigte die Volkspolizei. Die warteten natürlich genüsslich, bis jemand auftauchte, um uns alle auf einmal zu kassieren.« Dagmar Seipert rauchte immer gieriger. »Erich war ein kluger Kopf, der hatte den siebten Sinn. Er merkte, dass etwas im Busch war. Stoppte uns und sagte, die Flucht würde abgebrochen. Da begannen die beiden Schwestern zu zetern – mitten im Grünzeug! Wir konnten den LKW schon sehen. Nun sollten wir kurz vor dem Ziel, nach so viel Angst und schlaflosen Nächten, einen Rückzieher machen! Ich drehte mich trotzdem sofort um und ging. Meine Angst war zu groß. Die beiden Schwestern aber wollten weiter. Erich diskutierte mit ihnen. Ich war schon auf und davon. Ich trug nur eine Handtasche bei mir, keine persönlichen Sachen, keine Papiere, nichts. Es war eine Umhängetasche, die ich mir in der Tschechoslowakei gekauft hatte. Aus dickem braunen Leder, die habe ich heute noch. Erich hatte seinen Audi drei Kilometer weiter geparkt. Ich saß damals zum ersten Mal in einem Westwagen.«
    Sie verlor den Faden, legte die fast aufgerauchte Zigarette auf den Rand des Aschenbechers.
    Juliane saß auf dem Sofa wie festgefroren. Woran sie gerade dachte, war mir ein Rätsel. Nach ihrem Ausbruch gestern schien sie irgendwie übersteuert.
    »Es ist schwer«, sagte Dagmar. »Ich habe seit fast 40 Jahren nicht mehr darüber gesprochen. Kein Sterbenswort. Zu niemandem. Keiner durfte ja wissen, was ich vorhatte. Jedenfalls«, sie holte tief Luft, »brach Erich ab. Die Schwestern schlichen bis zu dem LKW vor, und in dem Moment, als der Fahrer sie aufnehmen wollte, griffen die Vopos zu. Der Fahrer selbst hatte gezögert, weil Erich nicht dabei war. Aber es gab ein Codewort. Rede und Gegenrede, vorher vereinbart und in langen, schlaflosen Nächten einstudiert. Also wollte der Fahrer sie in das Versteck klettern lassen. Das war’s dann. Die drei wurden verhaftet. Vermutlich, das habe ich nie erfahren, quetschten sie aus den Schwestern oder dem LKW -Fahrer heraus, dass noch jemand mitsollte. Innerhalb von weniger als einer Stunde erwischten sie Erich und mich. Erich in seinem Wagen, und mich auf der Landstraße. Ich tischte ihnen die Geschichte auf, die ich für solche Fälle einstudiert hatte. Ich hätte mit einem Freund meines Westcousins – Erich – Streit gehabt, weil er sich Hoffnungen auf eine Affäre gemacht habe, die von meiner Seite her völlig ausgeschlossen gewesen sei. Er sei weggefahren, hätte mich stehen lassen. Die glaubten mir kein Wort. Aber ich blieb bei dieser Geschichte, auch in der Haft, und das hat mich gerettet.«
    Dagmar lehnte sich zurück, ließ den Kopf gegen das Sesselpolster fallen. Die Zigarette verglomm.
    »Was ist mit Erich passiert?«
    »Auch er hat diese Version Tag und Nacht heruntergebetet.«
    Wir schwiegen, während der Verkehrslärm draußen schier unerträglich wurde.
    »Erzählen verleiht Macht über die

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