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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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unternehmen mussten, um herauszufinden, ob die Tour noch lief oder abgewandelt werden musste. Sie war auch nicht für jeden geeignet. Dr. Roths Vorteil war, dass sie, wie gesagt, kein Sächsisch sprach. Der Dialekt hätte sie verraten. Solche Touren habe ich fast nur für Alleinstehende oder Pärchen organisiert. Mit Kindern wäre es schon schwierig geworden. Die verplappern sich leicht.« Die Kellnerin brachte Torns Gin Tonic. »Natürlich bekam jeder Flüchtling seine Lebensgeschichte auf den Leib geschrieben. Die Leute erhielten Brieftaschen, in denen sich westliche Währung befand, Bustickets aus Düsseldorf oder Hamburg, eine alte Konzertkarte für die Berliner Philharmonie, Fotos von angeblichen Nichten und Neffen vor dem Kölner Dom oder auf dem Oktoberfest. Spielmaterial nannten wir das.«
    »Das klappte so ohne Weiteres?«
    »Ich habe über 30 Leute auf diesem Weg in den Westen verfrachtet, ehe die Tour aufflog. Larissa gehörte zu den Letzten. Dann war es vorbei.« Er lächelte betrübt. »Ich habe nie rausgekriegt, wer uns verpfiffen hat.«
    »Wie konnten Sie feststellen, ob Ihre Interessenten echte Fluchtwillige waren und keine Stasi-Spitzel?«
    »Ich hatte meine Methoden.« Er schmunzelte. »Natürlich wurde den Leuten massiv auf den Zahn gefühlt, die wurden ausgezogen bis aufs Fell. Manche fingen an zu heulen, andere gerieten in Rage. Das waren gute Anzeichen. Wer zu abgeklärt war, machte sich verdächtig.«
    »Haben Sie Flüchtlinge mit politischen Fluchtmotiven bevorzugt?«
    »Natürlich nicht. Wie wollen Sie auch herausfinden, welche Intentionen Vorrang hatten? Die meisten flohen entweder aus einer konkreten Bedrohungssituation heraus, weil sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hatten, oder ihre Gründe wuchsen aus einer Gemengelage aller möglichen Motive. Wirtschaftliche, private … Die Leute zahlten und bekamen ihre Dienstleistung. Über das Warum machte ich mir keine Gedanken.«
    Mein Espresso war kalt geworden. Ich trank ihn dennoch in einem Schluck aus.
    »Möchten Sie noch etwas trinken, Frau Laverde?«
    »Ich möchte wissen, warum Sie mir das erzählen«, sagte ich.
    Torn beugte sich vor.
    »Ich habe mich schon Ende der 70er weitgehend ausgeklinkt«, sagte er. »In den 80ern änderte sich die Lage. Gerade die Grenzen des sozialistischen Auslands zum Westen wurden strengstens bewacht. Ich weiß, dass ab diesem Zeitpunkt 90 Prozent aller Fluchtversuche mit Verhaftungen endeten. Als die Ausreiseanträge möglich wurden, waren illegale Ausschleusungen nicht mehr lukrativ. Pro Jahr gelangen gerade noch an die 40 Fluchten, aber über 30.000 Ausreiseanträge wurden genehmigt. Sogar 1989 haben die Leute noch massenhaft Anträge auf Ausreise aus der DDR gestellt. Man stelle sich vor! Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte die Führung irgendwann ohne Volk dagestanden. Gab es nicht diesen Witz? ›Der Letzte macht das Licht aus‹?«
    Er stellte sein leeres Glas ab.
    »Sie fragen sich, weshalb ich Sie einweihe«, sagte er und hob seinen rechten Arm.
    Ich keuchte auf. Seine rechte Hand fehlte. Der Arm endete in Höhe des Handgelenks.
    »Am Morgen des 31.1.1982, Frau Laverde, wollte ich die Rollläden an meinem Privathaus in Berchtesgaden aufziehen. Jemand hatte sie über Nacht mit Sprengstoff präpariert. Ich zog an dem Seil und weiß nichts mehr, wachte erst im Krankenhaus in Salzburg wieder auf. Kleiner Gruß von Erich Mielke. Wohlgemerkt, nachdem ich schon ausgestiegen war.«
    Ich schluckte hastig.
    »Woher wissen Sie … «
    »Ich habe meine Stasiakte eingesehen. Sie war meterdick.« Torn lachte vergnügt. »Ich muss sagen, ich hatte noch Glück. Andere Kollegen wurden mit fingierten Telegrammen nach Ostberlin gelockt und dort festgenommen. Einige wurden entführt und in den Osten verschleppt. Einer meiner Leute starb an einer Thallium-Vergiftung, die zu spät erkannt worden war.« Er legte den Kopf schief. »Habe ich Sie verschreckt?« Meine Antwort wartete er nicht ab. »Seien Sie vorsichtig, Frau Laverde. Wenn Sie zu nah an bestimmte Leute herankommen, wird es jemanden geben, der versucht, Sie in eine andere Richtung zu locken. Und wenn Sie nicht folgen, kennt man Möglichkeiten, Sie unschädlich zu machen.«
    »Die DDR gibt es nicht mehr«, sagte ich heiser.
    »Aber ihre Schachfiguren sind noch aktiv. Ich habe keine Ahnung, wie viele an den alten Idealen hängen, aber lassen Sie es 500 Leute sein – da gibt es genug Typen, die auch heute noch etwas zu verbergen haben.« Chris Torn legte

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