Fliehganzleis
Ereignisse, nicht wahr?«, sagte Dagmar leise. »Ich spüre das. Sicher wollen Sie ganz andere Dinge von mir wissen, aber darauf müssen Sie noch warten.« Ein plötzliches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Nein, ich bin noch nicht drüber weg. Über nichts. Es war zu schlimm. Ich kam in Isolationshaft. Totale Stille, Tag und Nacht Licht, nichts zu tun, nichts zu denken. Schon nach wenigen Stunden hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Ich verfiel in völlige Apathie. Wurde nachts verhört, durfte nicht schlafen, am Tag nicht liegen, sollte in der Zelle umhergehen. Man reduzierte die Essensration. Immer wieder wollten sie von mir wissen, wie das denn wirklich gewesen sei mit den Fluchtplänen. Warum ich der DDR den Rücken kehren wollte. Ich machte geltend, ich hätte bisher nur für meine Arbeit im Labor gelebt und so für Frieden und Sozialismus gekämpft. Das bestätigten mit Sicherheit auch alle meine Kollegen. Nach vier Monaten kam ich raus. Ich litt noch über Jahre an Schlaflosigkeit, tiefer Erschöpfung, fing aus heiterem Himmel zu weinen an. Noch heute habe ich Albträume. Mein Leben lang hatte ich Schwierigkeiten, meine Gefühle auszudrücken.« Sie griff wieder nach den Zigaretten, überlegte es sich aber anders.
»Bestimmt ist Larissa als Ihre entfernte Kollegin damals auch zu Ihrem Fall befragt worden. Könnte sie preisgegeben haben, dass sie von Fluchtabsichten wusste?«, platzte ich heraus.
»Ausgeschlossen. Sonst hätten die mich nicht rausgelassen. Kein Mensch kann auch nur im Entferntesten das Wort ›Flucht‹ in den Mund genommen haben.«
»Wie ging es weiter? Sie flohen doch dann in den Westen.«
»Ab Juni 1968 kehrte ich an meine Arbeitsstelle zurück. Delinquenten wie ich bekamen oft eine schlechtere Arbeit zugewiesen. Aber mir konnten sie nichts nachweisen. Ich war jemand, an dessen Schicksal sie ihre angebliche Milde und Menschlichkeit beweisen wollten. Die ersten Wochen waren schwer für mich. Ich spürte, wie die Kollegen auf Abstand gingen.« Den letzten Satz spuckte sie beinahe aus. »Aber wenn ich die Arbeit nicht gehabt hätte, ich wäre verrückt geworden. Im Hochsommer traf ich zum ersten Mal Dr. Roth wieder. Auf dem Korridor, ich trug eine Krankenakte irgendwo hin, sie auch, und sie meinte: ›Frau Seipert, gehen wir eine rauchen?‹ So saßen wir dann wieder traulich zusammen, unter dem Kirschbaum im Schatten. Es war sehr heiß. Wir wurden beobachtet. Daher ratschten wir nur, wie Hausfrauen es tun, wenn sie sich beim Müllrausbringen treffen. Rauchten unser Rettchen und gingen auseinander.«
»Woher wussten Sie, dass man Sie beobachtete?«
»Da war ein Kollege, von dem ich annahm, dass er für die Stasi arbeitete. Ich habe meine Akte später eingesehen. Ja. Er war auch so einer.« Dagmar stand auf, ging zu einem Bücherregal und zog ein Taschenbuch heraus. »Kennen Sie dieses Buch?«, fragte sie. Sie gab es nicht mir, sondern Juliane. »Lesen Sie. Jürgen Fuchs, Bürgerrechtler, saß in Hohenschönhausen ein, bevor sie ihn ausgebürgert haben. 1977 war das.«
›Vernehmungsprotokolle‹, entzifferte ich den Titel.
»Sie werden besser verstehen«, sagte Dagmar, setzte sich wieder, strich über den dunkelblauen Rock. »Mir haben sie das auch gesagt. Wie dem Jürgen Fuchs. ›Legen Sie sich nicht mit uns an. Wir finden Sie überall. Auch im Westen.‹«
»Wer hat das gesagt?«
»Die Vernehmer im Gefängnis. Was wollen Sie noch wissen?«
»Können Sie uns schildern, wie Sie doch noch aus der DDR herauskamen?«, fragte ich.
»Dasselbe Spiel.« Sie lachte auf. »Kontakt gesucht und gefunden. 1968 war ein seltsames Jahr. Ich kriegte mit, wie die Studenten im Westen plötzlich ›Ho Chi Minh‹ schrien und marxistisch wurden. Das habe ich nie verstanden.«
»Die 68er haben die Bundesrepublik demokratischer gemacht«, schaltete Juliane sich ein, die ›Vernehmungsprotokolle‹ noch immer in der Hand.
Mein flammender Blick brachte sie zum Schweigen.
»Ich fand engeren Kontakt zu Dr. Roth. Sonst kannte ich keinen Menschen, von dem ich annahm, dass er gehen wollte. Wir verloren das eine oder andere Wort über die Ereignisse in Prag. Die DDR -Führung inszenierte zwar die öffentliche Zustimmung ihrer Bürger zur militärischen Intervention. Aber dieses erzwungene ›Ja‹ entsprach nicht der allgemeinen Meinung. Zwei Divisionen der Nationalen Volksarmee wurden damals in Grenznähe in Bereitschaft gehalten. Das machte die Runde. Man musste sehr vorsichtig sein, was man
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