Fliehganzleis
Der amerikanische Geheimdienst sollte auf keinen Fall Wind davon bekommen, dass ihre eigenen Leute mitspielten. Dann wären diese sicheren Touren womöglich aufgeflogen.«
Erschöpft stand Dagmar Seipert auf und trat ans Fenster.
»Was für ein Verkehr«, sagte sie. »Und es wird schon dunkel. Der Herbst kommt.«
»Haben Sie Larissa noch einmal getroffen?«
»Aber sicher. Sie kam 1974, glaube ich. Bei ihr glückte die Flucht über Prag. Die berüchtigte Flugzeugtour. Sie war immer so stolz auf ihre Courage. Der erste Fluchtversuch ging daneben. Sie sollte ebenfalls mit einem LKW ausgeschleust werden, kam aber gar nicht dazu, zum ausgemachten Treffpunkt aufzubrechen, weil die Flucht verraten worden war.«
»Von wem?«
»Das wusste sie nicht. Sie zerbrach sich auch nicht mehr den Kopf darüber, wie sie mir damals sagte, als wir für kurze Zeit wieder in Kontakt standen. Sie fand meine Adresse mit Gerrit Binders Hilfe heraus. Gerrit steckte damals schon nicht mehr im Geschäft, aber er unterhielt noch alte Verbindungen. Auch schrieb ich ab und zu an Kendra und bekam Post von ihr. Einmal trafen wir uns sogar und gingen miteinander essen. Aber man hatte doch keine Gemeinsamkeiten.« Dagmar sprach zur Fensterscheibe, zu den ratternden Straßenbahnen. »Kaum war Dr. Roth im Westen, wollte sie nicht mehr darüber nachdenken, wer sie verpfiffen hatte. Für sie war die Hauptsache, dass sie raus war aus diesem Staat. Sehen Sie, Dr. Roth wäre nie auf legalem Weg rausgekommen. Ärzte, Techniker, Wissenschaftler, die waren der DDR zu wertvoll.«
Ich hörte in Dagmar Seiperts Stimme Hass, Verachtung, Resignation – aber auch Unmut, als nähme sie es sich übel, immer noch an den Vorkommnissen von damals zu knabbern.
»Larissa hatte einen Geliebten.«
»Ach, Alex!« Dagmar lachte auf.
»Sie kennen ihn?«
»Nicht persönlich. Sie hatte ein Foto von ihm. Er war ein Jüngling, ein Knabe. Keine Angst, kein Minderjähriger, er war schon 20, als sie ihn kennenlernte. Im Sommer vor ihrer Flucht. Sie kam im September 1974 in Bayern an und nahm den Grund und Boden ihrer Familie in Besitz. Das ist nun fast 35 Jahre her. Kaum zu glauben.«
»Ich habe gehört, Alex sei verhaftet worden.«
»Das erzählte sie mir. Es muss ein erotischer Sommer für Dr. Roth gewesen sein. Sie und Alex sind einander verfallen – von einem Augenblick auf den anderen. Er war knapp 15 Jahre jünger. Ein androgyner Typ, nicht richtig Mann, nicht richtig Frau, zumindest kam er mir auf dem Foto so vor. Aber dann muss etwas vorgefallen sein, vielleicht in Zusammenhang mit Larissas erstem Fluchtversuch, und Alex kam in Haft. Spätsommer 1973. Soweit ich weiß, wurde er erst kurz vor der Wende 1989 von der Bundesregierung freigekauft.«
»Wie hieß Alex mit Nachnamen?«
»Finkenstedt. Alexander Finkenstedt. Sein Vater war der SED -Oberbonze Reinhard Finkenstedt, mit Aussichten auf einen Posten im Staatsrat. Hat Dr. Roth Ihnen das nicht erzählt?«
»Noch eine Sache«, sagte ich. »Kennen Sie Chris Torn?«
»Nicht persönlich.«
»Aber er hat Ihre Flucht organisiert und durchgeführt? Die zweite? Die in dem amerikanischen Wagen?«
Dagmar Seipert nickte.
»Das heißt, Kendra White hat für ihn gearbeitet?«
»Ja, ich denke, sie hat für ihn gearbeitet.«
35
Mein Alfa parkte in der Parallelstraße zur Berg-am-Laim-Straße. Wir gingen die paar Meter durch die Dunkelheit. Es war schon nach zehn. Die Nacht brachte einen kühlen, böigen Wind mit.
»Warum hast du ihr nicht gesagt, dass Larissa im Sterben liegt?«, fragte Juliane.
»Ich wollte es ihr nicht zumuten.«
»Meinst du nicht, sie hat ein Anrecht auf die Wahrheit?«
»Ich kann es noch nachholen.« Ich war müde und verwirrt. Allmählich dämmerte mir, dass die Mitglieder der Fluchthelfergruppen nur Einzelheiten über Personal und Organisation kannten, nie das große Ganze. Ehemalige Flüchtlinge hatten noch weniger Durchblick. Ich sammelte Bruchstücke von anderen Leben auf und legte sie nebeneinander. So wie eine Archäologin aus einer Grube Scherben herausnahm, die noch sorgsam abgepinselt werden mussten. Dabei geriet ich auf ein völlig falsches Gleis. Ich arbeitete wieder wie eine Journalistin, die sich die unterschiedlichsten Quellen erschloss, um diese zu überprüfen und daraus die Story zu rekonstruieren. Ghostwriter schöpften jedoch nur aus einer Quelle. Sie malten die Welt in den Farben ihres Geldgebers.
»Wir sind doch Prostituierte«, murmelte ich.
»Wie bitte?«, fragte
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