Fliehganzleis
sagte.«
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Juliane. Sie setzte ihr ›Ich-bin-ein-Gaukler-und-Taschenspieler‹-Gesicht auf, das ihr, wenn wir Offiziersskat spielten, maßlos viele Punkte einbrachte.
»Dr. Roth und ich, wir tranken hin und wieder einen Kaffee zusammen. In der Stadt. Alles wirkte immer sehr zufällig. Wir begegneten uns auf der Straße und setzten uns in den Park auf eine Bank. Oder ins Café. So funktionierte das. Im Sommer 1968 hatte ich noch keinen Mut zu einem neuerlichen Fluchtversuch. Die Erinnerungen an die Monate in der Zelle waren zu frisch. Aber dann kratzte ich all meine Entschlusskraft zusammen. Richard, mein Cousin, setzte sich noch einmal für mich ein, und ich erhielt Besuch von einem Läufer, der mir eine bombensichere Fluchtmöglichkeit erklärte. Ich sollte nach Ostberlin fahren, mir einen guten Vorwand zurechtlegen, falls man mich abfangen und befragen würde. Alles Weitere würde geregelt. Ich hatte eine Tante in Ostberlin, der schrieb ich eine Postkarte, ich hätte ein paar Tage frei, ob sie Zeit für mich fände. Ich fuhr mit dem Zug, blieb zwei Tage bei meiner Tante. Am Abreisetag aber stieg ich nicht in den Zug nach Leipzig, sondern in die S-Bahn. Wurde von einem Läufer begleitet. Natürlich konspirativ, der blieb einfach in meiner Nähe. Wir wechselten kein Wort. Fuhren ein paar Stationen. Dann wartete ich bis zum Abend in einer leeren Privatwohnung, wurde in der Dämmerung abgeholt, kletterte in den Kofferraum eines amerikanischen Wagens. Ein Soldat der Alliierten hat mich in den Westen gefahren. Es gab keine Kontrollen. Richard hat dafür 50.000 DM bezahlt.«
»Um Gottes willen!«, sagte Juliane.
»Kendra White nahm mich in Westberlin in Empfang. Die Fahrt im Kofferraum, die dauerte keine halbe Stunde! Ich bekam einen bundesdeutschen Personalausweis mit einem Decknamen, stand plötzlich da als Einwohnerin von Kiel, und flog einen Tag später von Westberlin nach Hamburg. Das war ein Gefühl, in diesem Flugzeug zu sitzen und auf das Land hinunterzusehen, wo … « Dagmar brach ab.
»Warum haben Sie all diese Risiken auf sich genommen?«, fragte Juliane.
Sie ging mir gewaltig auf die Nerven. Musste sie Dagmar ausgerechnet jetzt unterbrechen, wo sich die Geschichte förmlich von selbst abspulte?«
Dagmar sah Juliane kühl an. Ein leises Lächeln spielte mit den vielen Fältchen in ihren Mundwinkeln. »Es klingt immer so allgemein, nicht wahr? Menschen wollen Freiheit. Der Kampf um die Freiheit. Blablabla. Worte, denken Sie vielleicht. Luftblasen. Aber wer nie gehungert hat – kann er sich anmaßen, den Hungernden zu verurteilen?«
Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum.
»Die Volksbewegung 1989, die Montagsdemonstrationen und so weiter – das war nicht nur der Hunger nach Freiheit. Es war diese tiefe Sehnsucht nach Veränderung überhaupt. Die Menschen waren es leid, gegen Mauern anzurennen. Denen war das Politbüro nur noch peinlich! Lauter alte Männer, die den Kopf nicht mal mehr gerade halten konnten!«
»Sie flogen nach Hamburg«, versuchte ich an anzuknüpfen.
»Massenhysterie«, schnaubte Dagmar. »Davon gab es 1989 eine gute Dosis. Was wollten Sie wissen?«
»Hamburg.«
»Ach. Ja. Nun, kaum war ich in der Bundesrepublik angekommen, brachte mich Kendra ins Zonenrandgebiet, von der Westseite her natürlich, und ich lief dem Bundesgrenzschutz direkt in die Arme. Gab mich als Sperrbrecherin aus. Ich behauptete, die Grenzanlagen überwunden zu haben. Keinesfalls durfte ich sagen, dass ich mit einem Amerikaner über die Sektorengrenze geflohen war!« Dagmar schüttelte den Kopf, als käme ihr der Gedankengang so viele Jahre später bizarr vor.
»Haben die das geglaubt?«, fragte ich erstaunt.
»Wahrscheinlich nicht, aber die beteiligten Behörden wollten eben auch keine schlafenden Hunde wecken. Sie waren ja sozusagen an der Fluchtaktion beteiligt. Das schleswig-holsteinische Landesamt für Verfassungsschutz verschleierte den Fluchtweg, indem es bundesdeutsche Ausweise ausstellte. DDR -Flüchtlinge wurden sehr genau befragt, auch von den Amerikanern. Wer in Norddeutschland ankam, durchlief das Aufnahmelager Uelzen. Die Befragungen dort waren harmlos, reine Formsache. Wenn ich mich schon in Westberlin als Flüchtling zu erkennen gegeben hätte, wäre ich ins Lager Marienfelde gekommen, und dort bohrten sie schärfer nach. Kendra und ihre Leute schärften mir ein, niemand in der Bundesrepublik dürfe erfahren, dass die Amerikaner Fluchthilfe machten.
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