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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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Architektenpapier und klammerte sie an die Leine. »Zur Tempelglocke – Ist eingekehrt und schläft nun – Der kleine Falter«, zitierte ich leise für mich ein Haiku von Buson.
    Ich wachte auf, als jemand zu mir unter die Decke kroch.
    »Nero?«, murmelte ich.
    »Was war los?« Er legte den Arm um mich.
    Vorsicht, Kumpel, nicht zu viel Mitleid, nicht zu viel Nähe, sonst fange ich an zu heulen.
    »Ein Auto hat mich angefahren. Es ist nichts passiert. Ich habe nur blaue Flecken abgekriegt. Es ist alles im Lack.«
    »Lass sehen!«
    Widerwillig knipste ich das Licht an. Nero geriet außer sich, als er das Landkartenhämatom in tiefem Atlantikblau auf meinem Oberschenkel sah.
    »Ist der Arzt wahnsinnig, dich so nach Hause zu schicken? Das kann eine Thrombose geben.«
    »He, langsam. Der Doc hat mir schon eine Spritze reingejagt.«
    Nero schüttelte nur den Kopf. »Hat er dir was mitgegeben? Tabletten? Ein Rezept?«
    »Nein!«
    »Du musst morgen sofort zum Arzt. Das kann gefährlich sein, wenn sich ein Blutgerinnsel bildet, das in deinem Herzen oder Gehirn stecken bleibt und einen Verschluss bildet … «
    » … dann Schluss, aus, Gartenhaus«, beendete ich seinen Satz. »Keine Sorge, die alte Oma Laverde passt auf mich auf.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war nach Mitternacht, und aus der Küche kroch Knoblauchduft zu uns herüber.
    Nero küsste mich. Seine warmen Lippen taten mir gut, besser als jede Injektion. Ihm konnte ich mich zeigen, so verletzt, wie ich jetzt war. Er ahnte, was geschehen würde, wenn der erste Schock überwunden war. Wenn ich begann, über das nachzudenken, was mir heute Abend passiert war. Ich würde nicht ertrinken, das nicht, aber mächtig seekrank werden.
    Vielleicht lag hier der Ansatzpunkt für Larissas Geschichte. Ich musste von den Wunden der Menschen ausgehen. Bisher hatte ich rein rational geforscht, die Geschichten, die ich gehört hatte, aus der Distanz betrachtet. Zusammenhänge hergestellt, Fakten aufgelistet. Daraus würde ein kaltblütiges, herzloses Buch werden. Doch eine Autobiografie musste berühren, die Gefühle der Leser ansprechen, sie auf ihre eigene Verletzlichkeit stoßen. An die Risse in den Seelen der Menschen, die im Buch eine Stimme bekommen würden, kam ich nur heran, wenn ich meine eigenen Schwachstellen zugab.
    Ich seufzte.
    »Ich bin hier«, sagte Nero.
    Ich drückte seine Schulter. Ich wollte an ihn denken. An das, was vielleicht aus uns werden konnte. Ich wollte nicht an Larissa denken, die womöglich schon in einer anderen Welt war. Konnte sein, dass ich dieses Buch gar nicht schrieb.
    »Ich habe Namen«, sagte ich. »Alexander Finkenstedt ist Larissas Geliebter gewesen. Und sein Vater war in der DDR eine große Nummer. Reinhard Finkenstedt. Dagmar Seipert meinte, er hätte die große Parteikarriere geplant.«
    Ich schauderte, während ich für Nero die Gespräche mit Chris Torn und Dagmar Seipert zusammenfasste. Plötzlich sackte ich in die Story hinein. Dagmars und Larissas Erlebnisse waren einerseits repräsentativ für ihre Zeit, viele Menschen teilten ähnliche Erlebnisse; aber andererseits gehörten ihre Geschichten doch auf einzigartige Weise zu ihrem individuellen, nicht austauschbaren Leben und waren damit zutiefst persönlich.
    »Ich werde so lange an dem Buch schreiben, wie Larissa am Leben ist«, beschloss ich.
    »Kinder, kommt essen!«, rief Juliane aus der Küche.
    Ich sah Nero an.
    »Los. Lassen wir sie nicht warten«, sagte er. In seiner allumfassenden Sorge half er mir behutsam aufzustehen. Das brachte mich doch beinahe zum Heulen. Kea Laverde, die Kratzbürste, mutierte zum Lämmchen.

39
    Nero arbeitete nun ein knappes Dreivierteljahr im LKA in der Mailinger Straße in München, und zum ersten Mal war er dabei, sich unbeliebt zu machen. Er hatte gleich an diesem Mittwochmorgen mit Martha Gelbach in Würzburg telefoniert und währenddessen Polizeioberrat Woncka warten lassen, der dringend ein Gespräch wegen der Fortbildungsseminare mit ihm führen wollte. Kaum hatte Nero aufgelegt, stürmte Woncka das Zimmer und legte los.
    »Was soll das heißen, Keller? Warum berichten Sie mir nicht? Erst liegen Sie mir in den Ohren, Sie wollen diese Fortbildungen halten, und nun verkneifen Sie sich das Feedback!«
    »Ich komme sofort zu Ihnen«, hörte Nero sich sagen. Er wollte unbedingt die Namen, die Kea ihm genannt hatte, an Freiflug weitergeben.
    »Im Konferenzzimmer. In fünf Minuten.«
    Woncka ging, und Freiflug grinste

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