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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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Wetter änderte sich also«, knüpfte Nero an Dönges’ letzte Bemerkung an.
    Mein Leben als Möwe musste warten.
    »Ja. Damals wurde die Polizei eingeschaltet, weil bei Todesfällen von Kindern eine gewisse Aufregung in der Bevölkerung zu erwarten war. Deshalb bekamen wir Order, auf alle Fälle einen tragischen Unglücksfall zu destillieren, der durch nichts zu verhindern gewesen war, so schlimm das auch sei. Keinesfalls habe irgendjemand eingreifen können. Das Kind sei unvorsichtig gewesen, habe sich den Anweisungen der Erwachsenen widersetzt und sei schwimmen gegangen. Gegen Bockbeinigkeit kommen auch die verantwortungsvollsten Betreuer nicht an.«
    »Das war die offizielle Version?«, fragte Nero.
    Dönges lachte heiser.
    »Das war das Ermittlungsergebnis, das wir feststellen sollten. So lief das damals. In der Polizeiarbeit standen viele Resultate schon fest, bevor auch nur ein Ermittler sein Notizbuch gezückt hatte. Ich bin 64. Nächstes Jahr gehe ich endlich in Pension. Dann war’s das. Dem Himmel sei Dank.«
    Ich sah die tiefen Falten in seinem offenen Gesicht, die bläulichen Lippen. Er war herzkrank. Und nach den dunklen Schatten um seine Augen zu schließen, stand es auch um seine Leber nicht zum Besten.
    »Aber Sie haben doch die Zeugen befragt?«, wollte ich wissen.
    »Natürlich. Wir sollten als Vertreter der Staatsmacht Vertrauen erwecken. Und ich wollte mir ein eigenes Bild machen. Auch wenn ich in die Berichte schrieb, was erwartet wurde. Ich war Berufsanfänger. Ich konnte mir keine Schlampereien leisten!«
    Wir gingen durch den nassen Sand, nah an der Wasserlinie. Meine Ohren begannen vom Wind zu schmerzen. Ich zog die Kapuze über den Kopf und drehte mich um, schaute zurück zum Ortszentrum. Sah die Villen und eleganten Hotels. Seine Majestät, der Kaiser, hatte an dieser Küste mitsamt seinem Gefolge die Ferien verbracht. Das war noch nicht einmal 100 Jahre her. Meine Oma Laverde war noch im Kaiserreich geboren.
    »Wer hat damals die Eltern benachrichtigt?«, hörte ich Neros Stimme.
    »Das haben Kollegen aus Leipzig übernommen, wo das Kind herstammte.«
    »Haben Sie die Zeugen alleine vernommen?«
    »Wie stellen Sie sich das vor? Im Lager verbrachten an die 40 Kinder ihre Ferien, und ungefähr«, er überlegte, »na, zehn erwachsene Betreuer werden das gewesen sein. An jenem Abend war noch eine Gruppe Junger Pioniere von der Insel eingeladen. Wir hatten zwischen 70 und 80 Personen zu befragen.«
    »Also waren Sie zu mehreren?«, fragte ich.
    »Wir waren vier Ermittler. Erst mussten wir die Kinder befragen, damit die ins Bett kamen. Sie waren verängstigt und überdreht. Wir nahmen die Personalien auf, Name, Wohnort, Adresse, Namen der Eltern, und fragten, ob sie Katja Mannheim an dem Abend gesehen hätten. Wenn sie ›ja‹ sagten, das taten ungefähr 50 Prozent, fragten wir weiter. Wo habt ihr Katja gesehen, wann war das ungefähr, was hat Katja gemacht. Wie immer bei solchen Geschichten bekamen wir eine Menge loser Ideen und einander widersprechende Angaben.«
    »Wer hat mit Reinhard Finkenstedt gesprochen?«, wollte Nero wissen.
    »Mein damaliger Vorgesetzter hat die Zwölfender übernommen. Sie können das nicht nachvollziehen, schätze ich, aber es durfte auf gar keinen Fall so weit kommen, dass man Finkenstedt wegen irgendeiner Sache verdächtigt hätte. Oder auch nur anklingen ließ, dass man ihm etwas vorwarf. Obwohl er als Gruppenpionierleiter der Verantwortliche gewesen war, durfte er nicht einmal besonders scharfen Fragen ausgesetzt werden. Niemand wollte sich die Finger verbrennen. Falls überhaupt jemand seine Aufsichtspflicht verletzt hatte, dann sicher nicht Finkenstedt.« Dönges zwinkerte. Unklar, ob er sich vor dem beißenden Sand schützte oder ein resigniertes ›Sie wissen schon‹ signalisierte.
    Wir kamen an einem Pärchen vorbei. Die beiden mühten sich mit einem Lenkdrachen, der wie besoffen im Sturm tanzte, um dann dem Strand entgegenzurasen, wo er in letzter Sekunde die Kurve kriegte und wieder in die Höhe schoss.
    »Können Sie sich daran erinnern, wie Sie als Ermittler von Reinhard Finkenstedt aufgenommen wurden?«, schaltete ich mich wieder ein. »Wie hat er Sie begrüßt? War er freundlich, zuvorkommend, spielte er Ihnen etwas vor, war er geknickt, angespannt … «
    Dönges dachte nach. »Das ist nun schon sehr lange her. Wir hatten die Leiche im Schilf, das war schauerlich, ein ertrunkenes Mädchen. Die Wellen hatten den Leichnam einfach an Land geworfen.

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