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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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Ich hatte noch nie ein totes Kind gesehen. Meine Frau war damals gerade das erste Mal schwanger. Ich habe mich gerade noch so weit in den Griff gekriegt, dass ich mich nicht übergeben musste.« Dönges seufzte. »Es regnete wie aus Eimern, das Lager war durchweicht, die Kinder außer Rand und Band. Finkenstedts Frau weinte. Reinhard Finkenstedt wollte vor allem Ruhe ins Lager bringen. Es gab einen Bootssteg mit einem halb verrotteten Bootshaus am Ende. Dorthin verlegten wir Ermittler unsere Basis. Wir konnten dort einigermaßen im Trockenen sitzen. Wie Sie ja wissen, gibt es bei solchen Prozeduren immer viel Papier. Und das durfte auf keinen Fall nass werden.« Dönges lächelte. Ich mochte sein Gesicht. Er hatte etwas von dem Großvater, den jedes Kind sich wünscht.
    »Machte Finkenstedt einen freundlichen Eindruck? Bemühte er sich um Sie?«, hakte ich nach. Nero sah mich nachdenklich an. Er verstand wohl allmählich, dass man in meinem Job vorzugsweise auf die Emotionen abhob.
    »Er lief zur Höchstform auf«, antwortete Dönges. »Erinnerungen sind unzuverlässig, aber ich hatte den Eindruck, er sei durchaus Herr der Lage, erschrocken, sich der Tragik der Ereignisse bewusst. Aber er war funktionsfähig.«
    »Welche Zeugen haben Sie persönlich befragt?«, wollte Nero wissen.
    »Neben anderen seinen Sohn.«
    Ich hielt den Atem an. Nun wurde es spannend.
    Wir gingen immer weiter, durch die Dunkelheit dieser feuchten, stürmischen Nacht, an den Schatten verlassener Strandkörbe vorbei. Meine Lungen tankten die salzige Luft. Ich fühlte mich stark. Als sei mein Kopf mit einem Mal durchsichtig geworden, mein Gehirn aus Kristall. Als könnte ich klarer denken.
    »Alexander war ein schmaler Junge, schmächtig, kann man sagen, mit hängenden Schultern. Ein Gegenstück zu seinem muskulösen, sportlichen Vater. Ich glaube, Finkenstedt schämte sich für seinen Sohn. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn er Alexander da hätte heraushalten können, aber auch ein Reinhard Finkenstedt konnte nicht alles gleichzeitig im Griff haben.« Dönges blieb stehen und wandte sein Gesicht dem Meer zu. »Ich genieße diesen Anblick. Sehen Sie dort hinten die Lichter von Swinemünde? Heute nennt sich die Stadt Swinoujscie. Sehr polnisch, sehr fremd – aber die Landschaft ist uns doch vertraut. Die Grenze ist offen. Die haben den Zaun einfach durchgeschnitten und ein paar Betonplatten für die Radfahrer in den Sand geworfen. Schon sonderbar. Erst wird einem eingetrichtert, dass die Welt aus sorgsam voneinander zu trennenden Bausteinen besteht, hektarweise wird Wald gerodet, um das Papier für Visa und Zollbescheinigungen zu produzieren, und mit einem Mal wechseln die Vorzeichen und nichts davon hat mehr Bedeutung.«
    Ich sah in die Richtung, in die er wies. Erkannte dunkelgelb beleuchtete Hafenkräne und ein Schiff, das sich auf Zehenspitzen in den Hafen der polnischen Stadt schlich.
    »Alex war fürchterlich verstört«, berichtete Dönges weiter. »Ich konnte kaum etwas aus ihm herausbringen. Er starrte mich mit riesigen Augen an. Ich musste vorsichtig sein. Ich wollte nicht, dass Finkenstedt mir nachher vorwarf, ich hätte seinen Sohn unter Druck gesetzt. Ich fasste ihn sehr behutsam an. Er war ein Jugendlicher. 15 Jahre alt. Sein Vater saß während der Vernehmung neben ihm.«
    »Sie hatten den Eindruck, Alex wusste, wie es zu dem Unfall gekommen war, aber er packte nicht aus, weil er Angst hatte und unter Schock stand?«, unterstellte ich.
    »Heutzutage wird in solchen Fällen sofort ein psychologisches Einsatzteam bestellt«, murrte Dönges. »Da kippt in einer Schulklasse die Tafel um, und schon steht der Notfallseelsorger parat. Nichts gegen Krisenintervention, aber damals war keine Rede davon. Einen Pfarrer hätte man ohnehin nicht geholt.«
    Ich verstand. Dönges hatte die Not des Jungen gesehen und menschlich gehandelt. Er hatte ihn getröstet, ihm gut zugeredet. Hatte eine fremde Aufgabe zu seiner gemacht. Aus Mitleid, Unerfahrenheit und Angst.
    »Rosa Finkenstedt«, mischte sich Nero ein. »Wer hat mit ihr geredet?«
    »Sie ist nie vernommen worden«, antwortete Dönges. »Lassen Sie uns weitergehen, es wird kalt.«
    »Warum nicht?«, fragte ich. Weit draußen auf dem Meer sah ich ein Leuchtfeuer aufblinken und die grünen und roten Positionsleuchten von Schiffen.
    »Sie stürzte ab. Weinte haltlos. Finkenstedt bestand darauf, dass ein Arzt kam und ihr ein Beruhigungsmittel verabreichte. Weil es sich so ergab, kümmerte

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