Fliehganzleis
Gesprächen mit dem Klinikpersonal und den anderen Patienten ging nicht viel hervor«, berichtete Martha Gelbach. »Alex habe sich hervorragend angepasst, sich eingebracht, viel gelesen. Er ist wohl ein Mensch, der bestens mit sich selbst klarkommt und Gesellschaft genießt, aber nicht braucht. Null Aggressionspotenzial, sagte mir der Arzt. Alex leidet an einer Angstneurose, die auf die extreme Belastung durch die lange Haftzeit zurückgeht. Der Mediziner erklärte mir, häufig kämen die Betroffenen einige Jahre sehr gut im Leben zurecht, wenn sie aus dem Zuchthaus entlassen sind. Plötzlich werden sie von der Vergangenheit eingeholt, werden funktionsuntüchtig, verkriechen sich in der Wohnung, gehen nicht mehr raus, fürchten von jedem Regentropfen, dass er sie erschlagen könnte.«
»Sie zitieren Brecht, Frau Kollegin.«
»Nun hören Sie schon auf mit Ihren Komplimenten!« Martha Gelbach lachte leise.
Ich verdrehte die Augen.
»Alex’ größtes Problem ist wohl seine Unentschlossenheit. Zu stringentem Handeln ist er nur eingeschränkt fähig. Er fasst Pläne, führt sie aber nicht oder nur zur Hälfte aus«, fuhr die Kommissarin fort. »Ändert währenddessen seine Absichten. So kommt er nie zu einem Ergebnis. Ein Zustand, der ihn frustriert, wodurch er seine weiteren Intentionen noch halbherziger in die Tat umsetzt.«
»Hat Alex in der Klinik jemandem von Larissa erzählt? Einem Arzt oder anderen Patienten?«, fragte Nero.
»Larissas Namen hat er nie genannt. Aber er sprach ab und zu von einer Frau, die er liebte. Ohne Groll äußerte er einem Mitpatienten gegenüber, dass er die Liebe dieser Frau wohl nie mehr erobern würde. Der Patient hatte den Eindruck, Alex sei damit ausgesöhnt. Wo sind Sie eigentlich?«, fragte Martha Gelbach unvermittelt.
»Zu Hause«, flunkerte Nero. »Ich habe wegen des Unfalls in München, bei dem Kea Laverde angefahren wurde, nichts Neues gehört.«
»Die Jungs in München geben den Fall zu den Akten. Das machen die gerne. Die beschäftigen sich mit den U-Bahn-Schlägern und Wahlkampfveranstaltungen. Der Punkt ist doch: Wir haben nichts. Nur eine zusammengeschlagene Gräfin, die mit dem Tod ringt. Heute Morgen war sie für eine gute halbe Stunde bei Bewusstsein. Der Arzt rief mich an, aber als ich hinkam, war sie schon wieder ins Leere gerutscht. Es besteht nicht viel Hoffnung.«
Mir sackte das Herz in die Hose.
»Wir haben zwei verletzte Frauen«, erinnerte Nero seine Kollegin. »Einen Kerzenleuchter, sprich die Tatwaffe, einen Wagen ohne Kennzeichen, der Kea Laverde rammte, und eine DNA .«
»Scheiße, ja!«, rief Martha Gelbach genervt. »Aber ich habe keine Person, der ich die Spur unterjubeln kann, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.«
»Schon.« Nero rollte sich auf den Rücken. »Was können wir tun?«
»Außer die Fahndung europaweit laufen zu lassen? Vergessen Sie es. Alex lebt längst mit anderen Papieren in sonstwo.«
»Hat er Geld?«, fragte Nero. »Eine zweite Identität ist prima, aber ohne Zaster … «
»Sein Konto sieht magersüchtig aus.«
»Das ist es eben.«
»Ich habe nichts«, sagte Martha Gelbach wütend. »Und Sie? Können Sie mir ein wenig Mut machen?«
»Leider nein. Tut mir wirklich leid.«
»Grüßen Sie Frau Laverde«, schnaubte Martha Gelbach und legte auf.
»Vielleicht war es nicht Alex. Sondern Reinhard Finkenstedt«, sagte ich.
»Motiv?«
»Keine Ahnung! Aber welches Motiv sollte Alex haben?«
»Ich habe ein Foto von Reinhard Finkenstedt hier. Sobald Juliane kommt, soll sie es sich anschauen und mir sagen, ob er das Auto gefahren hat, das dich aufs Korn genommen hat.«
»Lass sehen!«
Er kramte aus seinen Unterlagen ein Foto hervor von einem Mann mit dichtem, grauem Haar, einer kantigen Nase und einem Doppelkinn.
»Sagt dir das was?«, fragte er angespannt.
Ich schüttelte den Kopf. Sah er aus wie Pinochet? Vielleicht. Ich hatte den Fahrer nicht gesehen. Nur die Schnauze des Wagens, die auf mich zuschoss. Schweiß trat auf meine Stirn.
»Markus Freiflug kümmert sich drum«, beruhigte Nero mich. »Er besucht Herrn Finkenstedt privat, sammelt ein paar Haare oder Speichel ein und dann haben wir seinen genetischen Fingerabdruck.«
Ich starrte Nero mit offenem Mund an.
»Seid ihr eine Art Mafia?«, fragte ich.
Er lachte. »Der Klabautermann ist in mich gefahren. Ich muss es einfach tun.« Mit einem Klick schlüpfte er aus dem weltumspannenden Netz, zog das Telefonkabel aus dem Laptop und fuhr den Rechner herunter.
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