Fliehkräfte (German Edition)
eine Rolle auf. Ach was, mehrere! Die des zurückgelassenen Ehemanns, des Bettlers um Zuwendung, der abends auf einen Anruf wartet. Eine schlimmer als die andere. Lauter Scheißrollen!«
»Das ist unser Problem: In deiner Wahrnehmung tue ich alles, was ich tue, dir an.«
»Unser Problem ist, dass dich nicht sonderlich kümmert, was du mir antust.«
»Der Name dafür lautet Egozentrik.«
»Fast richtig. Er lautet Egoismus.«
Sie rollten ins nächste Dorf und hielten vorübergehend inne. Vor einem Eiscafé namens Rialto saßen junge Familien in der Sonne. Das vergangene Semester war ein einziger Krampf gewesen, das gesamte letzte Jahr eine Reihe von Enttäuschungen, und Hartmut spürte die grimmige Entschlossenheit, ein Ausrufungszeichen zu setzen. Das hat jetzt lange genug gedauert, sagte er sich. Am Morgen nach dem Streit mit Herwegh hatte seine Sekretärin ihm einen versiegelten Brief überreicht, in dem der Kollege sich in aller Form für sein Benehmen entschuldigte. Manchmal war es notwendig, seinen Standpunkt mit Entschiedenheit zu vertreten. Wahrscheinlich hatte er darauf zu lange verzichtet, um des lieben Friedens willen.
Maria seufzte und wechselte die Tonlage.
»Können wir noch mal von vorne anfangen?«
»Der Traum eines jeden älteren Paares, der leider ...«
»Können wir!? Kannst du aufhören mit dieser albernen Stichelei. Bitte! Ja?«
»Okay, ich hör dir zu.« Mit einem Seitenblick erfasste er dasleichte Zittern ihrer Lippen. Zorn und Frustration. Trotzdem war sie entschlossen weiterzumachen, und zum ersten Mal verstand er, dass sie in Wirklichkeit den Streit vermeiden wollte. Eine Einsicht, die an ihm vorübertrieb wie draußen die Landschaft.
»Das Allerwichtigste für mich ist, dass du verstehst, warum ich nicht anders handeln konnte. Damals. Weshalb es nicht um Egoismus geht. Dass ich ...« Sie sprach schnell jetzt, um ihm keine Möglichkeit zum Einhaken zu geben, aber dadurch kam sie ins Stolpern. »... als das Angebot kam, nur entweder annehmen konnte oder mir für den Rest meines Lebens vorwerfen, es abgelehnt zu haben. Mir vorwerfen und dir. Und das lag daran, weil das Leben in Bonn ...«
»In ›deinem Bonn‹ hast du immer gesagt, aber eigentlich gemeint: das Leben mit mir. Richtig?«
»Es würde uns ein großes Stück weiterhelfen, wenn du nicht hinter jedem Satz einen Vorwurf vermuten würdest.«
»In der Tat, warum sollte ich das tun? Jahrelang habe ich meine Familie zugunsten der Arbeit vernachlässigt und dich nicht bei der Suche nach einer Beschäftigung unterstützt. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Tatsache. Richtig?« Gelang es ihm nicht mal mehr, sie wütend zu machen? Und wusste sie, dass sie sich ihre Arbeit nur leisten konnte, weil er für die Berliner Wohnung aufkam? Dass seine Arbeit ihre finanzierte? Er bezahlte für den Umzug, dessen Hauptleidtragender er war, und musste sich obendrein Vorwürfe anhören.
»Seit wann bist du ein solcher Zyniker, Hartmut?« Sie fragte ganz ruhig. Jetzt und hier wäre sie bereit, ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Er kannte diese unerschütterliche Aufrichtigkeit im Kern ihres Wesens. Den katholischen Ernst der Serra da Estrela, wo ihre Eltern herstammten und die Frauen jeden Abend den Rosenkranz beteten. Würde er sie lassen, würde sie ihm versichern, dass sie wisse und anerkenne, wie hart er in den vergangenen zwanzig Jahren für seine Familie gearbeitet hatte – aber nur, damit er sich endlich abfand mit ihrem Umzug. Der genau genommen ein Auszug gewesen war.
»Tja, seit wann bloß«, sagte er.
»Verstehe. Das ist also auch meine Schuld.«
»Wieso auch? Bisher war nur von meinen Fehlern die Rede.«
»Das ist es, was ich meine. Wir können nicht mehr reden. Wir können nicht einmal mehr reden über uns.« An ihrer heiseren Stimme hörte er, dass sie gleich wieder in Tränen ausbrechen würde. Erneut holte sie ihr Taschentuch hervor und hielt es sich vors Gesicht. Nun war es an ihm, in die Offensive zu gehen.
»Die schier endlose Reihe meiner Fehler. Wo beginnen? Ich unterstütze dich nicht bei deiner Arbeit, denn finanzielle Unterstützung ist ja keine Unterstützung, sondern eine subtile Form von Herablassung. Ich verkenne die aus deinem Job hervorgehende Bereicherung für unsere Ehe, die in den unzähligen E-Mails besteht, in denen wir einander mitteilen, wann wir vielleicht telefonieren können. Außerdem wiederhole ich mich ständig, vor allem die Frage, wie es dir geht. Schlimm! Zynisch bin ich sowieso, das liegt
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