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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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seinem Gesicht hin und her.
    Aus Marias Kehle kam ein gequälter Schrei. Hartmut nahm den Fuß vom Gas und sah im Tunnel seiner Wahrnehmung ein gelbes Ortsschild auftauchen. Erst links das Mercedes-Autohaus, dann rechts eine geschlossene Tankstelle. Als würde sieden Druckabfall in ihrer Kabine anzeigen, senkte sich die Tachonadel nach links.
    Maria weinte still, ein bloßes Wimmern.
    Um diese Zeit war niemand unterwegs auf den breiten Bürgersteigen. In einer Hofeinfahrt wusch jemand mit energischen Bewegungen sein Auto. Noch einmal mussten sie raus auf die offene Bundesstraße, aber diesmal blieb Hartmut im vierten Gang. Eine Gruppe Motorräder zog knatternd vorbei. Zwei Minuten später rollten sie hinein nach Bergenstadt, und er wusste nicht wohin. Es war fünf vor halb drei. Ohne zu blinken, passierte er die Abzweigung zu ihrem Hotel und überquerte den Marktplatz. Ein paar triste Gestalten saßen vor dem Kriegerdenkmal und tranken Dosenbier. Es war der einzige Weg, der ihm einfiel, aber Maria schnäuzte sich und schüttelte den Kopf.
    »Komm bloß nicht auf die Idee, jetzt zu deiner Schwester zu fahren.«
    Er nickte, als hätte er nichts dergleichen vorgehabt. Im Schatten des Schlossbergs führte die Straße bergan, und statt nach links abzubiegen zu Ruth und Heiner, fuhr Hartmut weiter geradeaus. Es war der Weg hinauf zur Waldhütte, in der sie gestern gefeiert hatten. Eine Ewigkeit her und ein Ziel so gut wie jedes andere. Seine einzige klare Empfindung in diesem Moment war Durst, aber die Wasserflasche lag unerreichbar zu Marias Füßen.
    Aus der Straße wurde ein asphaltierter, von Brombeerhecken gesäumter Weg. Nach links öffnete sich der Blick über das Bergenstädter Tal, eine riesige grüne Schüssel voller Sonnenlicht. Maria griff nach ihrer Handtasche auf der Rückbank, den Zigaretten. Von einer Sekunde auf die andere musste er dringend aufs Klo.
    Lediglich zwei Autos parkten im Schatten der Bäume, Menschen waren keine zu sehen. Sobald Maria ihren Gurt löste, begann es am Armaturenbrett zu blinken. Das Gouvernantengehabe moderner Technik, das erst aufhörte, als Hartmut den Motor abstellte. Mit bedächtigen Bewegungen wollte er die einsetzende Stille bewahren, aber Maria öffnete sofort die Tür und schlug sie wortlos hinter sich zu. Ein Schwall warmer Waldluft nahm ihren Platz ein.
    So kann es kommen, ging ihm durch den Kopf.
    Beide Hände lagen auf dem Lenkrad. Seine Frau folgte dem Weg hinauf zur Hütte, und er konnte nichts weiter tun, als sitzen zu bleiben und ihr hinterherzusehen. Auf ihn warteten endlose Stunden inmitten einer fröhlichen Hochzeitsgesellschaft. Die Trauung, das gemeinsame Essen, Musik und Tanz bis spät in die Nacht. Ruth hatte ihm gestern die Gänge des Menüs aufgezählt und von einer fünfköpfigen Band gesprochen. Maria verschwand hinter der nächsten Biegung. Durch die Bäume sah Hartmut die flimmernde Luft über dem Tal und das Schloss auf seinem Berg.
    Vor ihm lag das längste Wochenende seines Lebens, und er war hundert Jahre alt.

3 Feierabend. Um kurz nach sechs verlässt Hartmut das Hauptgebäude der Universität und überblickt das entspannte Treiben im Hofgarten. Hier und da sitzen Studenten auf der Wiese, alleine, zu zweit oder in kleinen Gruppen, in Bücher vertieft, mit bunten Jonglierbällen beschäftigt, Bier trinkend. Es ist ein sonniger Montagabend in der vorlesungsfreien Zeit. Junge Mütter nehmen ihre Kinder an der Hand und machen sich auf den Heimweg. Hinter Hartmut liegen die Begutachtung eines langweiligen Aufsatzes – die Art von gut informierter, spitzfindiger Inhaltslosigkeit, die er früher eingehend kritisiert hätte – und diverse Telefonate, unterbrochen von Phasen angestrengten Müßiggangs. Am Fenster hat er gestanden und nachgedacht, jetzt verharrt er beim Abgang zur Tiefgarage. Vor dem Kunstmuseum spielen zwei junge Männer Frisbee und begleiten mit langgezogenen Rufen die Flugbahn der Scheibe.
    Es gibt Tage, an denen die Zeit wie gegen atmosphärische Widerstände vergeht. Frau Hedwig zufolge liegt es am anhaltenden Hochdruck. Der mache sie inzwischen auch ganz wuschig. Für die besonders schlimmen Tage hat sie in der Institutsküche einige Pikkolofläschchen deponiert und ihm am Nachmittag eins angeboten. Danach ging es mit der Arbeit noch langsamer, und gegen die Nervosität half es nur vorübergehend. Geblieben ist ein Anflug von Sodbrennen.
    Noch knapp zwei Stunden, sagt seine Uhr. Hartmut gibt sich einen Ruck und will die Treppe zur

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