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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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mir im Blut, und als wäre das alles noch nicht genug ...«
    »Hör auf«, flüsterte sie. »Hör bitte auf.«
    Hätte er gerne getan, aber er konnte nicht. Es wurde ihm bewusst, noch während er sprach und den Wagen beschleunigte. Die Landschaft verschwamm, er sah nur die Straße. Heute war der Tag, auf den er seit Monaten hingelebt hatte, ohne es zu wissen. Er gefährdete ihre Ehe? Ihm platzte der Schädel, so groß war seine Empörung.
    »Als wäre das alles noch nicht genug, stehe ich natürlich auch den Inhalten deiner Arbeit völlig verständnislos gegenüber.«
    »Bitte nicht. Das ...«
    »Seien wir ehrlich: Ich habe hoffnungslos provinzielle Vorstellungen von der modernen Bühnenkunst.«
    Mit angezogenen Knien hockte Maria auf dem Beifahrersitz, und er hätte nur den Mund halten müssen, aber es ging nicht. Auf der letzten Premierenfeier hatte er nicht gesagt, was er wirklich von Schlachthaus Europa hielt, und das war nur ein weiterer Fall von Selbstverleugnung, um die Stimmung zu Hause nichtzu gefährden. Oh, er hatte genau gespürt, wie Peter Karow ihn von der Seite ansah, weil er nicht mehr von pubertärem Unfug, sondern von kraftvoller Provokation sprach, sobald Maria ihnen an der Bar Gesellschaft leistete. Und was hatte er mit seiner Leisetreterei erreicht? Er gefährdete ihre Ehe!
    »Masturbation vor Publikum ist progressiv!« Seine Stimme klang höher als normal, um einen Halbton ins Irre verschoben. Die Straße machte eine langgezogene Kurve und mündete in eine noch längere Gerade. In der Ferne erkannte Hartmut das Bergenstädter Schloss, ansonsten gab es nur die unwiderstehliche Sogwirkung einer von Randstreifen eingefassten Schneise. Er schaltete in den fünften Gang, umklammerte das Lenkrad und dozierte wie ein durchgeknallter Professor.
    »Sie befreit nämlich, und das ist es, was wir brauchen: Befreiung! Von den Lügen und den Fesseln. Weg mit den bürgerlichen Konventionen! Die Verstellung hat viel zu lange gedauert. Wir alle machen uns was vor. Dankbar sollten wir ihm sein, dem großen Meister, dass er ...«
    »HÖR AUF!« Marias Stimme füllte den Innenraum des Wagens, als wollte sie ihn zum Platzen bringen wie Glas. So hatte er sie noch nie gehört. Sich auch nicht. Das wurde jetzt richtig gut hier.
    »Ist doch so!«, rief er. »Wir ärmlichen Gestalten wissen oft genug selbst nicht, wie unfrei wir sind, und können von Glück sagen, dass der Berliner Kultursenator ein paar einschlägige Experten finanziert, die uns den Spiegel vorhalten. Deren Worte diese Schärfe besitzen, die durch alle Lügen hindurchgeht. Denn was wollen wir wirklich? Hat schon Gottfried Benn gesagt: Enthemmungen der Löcher und der Lüste! Oder mit dem ersten Gebot aus des Meisters großer Abendland-Revue: Du sollst ficken!«
    Daraufhin knallte es.
    Die Reifen quietschten, und der Mittelstreifen wich nach rechts aus. Der einsame, sturmumtoste Leuchtturm der Vernunft in seinem Kopf sagte ihm, dass seine Frau aus Notwehrhandelte. Dass sie kein weiteres Wort von ihm ertrug. Sollte er das Auto gegen den nächsten Baumstamm setzen? Seine Wange brannte, aber er hatte Lust auf einen noch größeren Knall.
    »Mehr davon!«, rief er. Er bekam den Wagen unter Kontrolle, blieb aber auf der linken Fahrspur. Was als Nächstes? Bellen? Gackern? Krähen?
    »Was mache ich in diesem Irrenhaus von einer Ehe?« Marias Stimme war eine Mischung aus Weinen und Schreien, hysterisch und heiser. Endlich hatten sie alle Grenzen hinter sich gelassen. Er beschleunigte weiter.
    »Nichts machst du. Gar nichts. Du bist zu einhundert Prozent mein Opfer.«
    »Warum willst du jetzt alles kaputt machen, Hartmut? Sag mir warum.«
    »Macht kaputt, was euch kaputt macht, haben wir früher gesagt. Oder nicht ›wir‹, die anderen. Ich saß am Schreibtisch.«
    »Lass mich aussteigen. FAHR VERDAMMT NOCH MAL ZURÜCK AUF DIE ANDERE SEITE!«
    Aus der Abzweigung dreihundert Meter vor ihnen bog ein Wagen in die Bundesstraße ein und kam ihnen entgegen. In Filmen hatte er dergleichen gesehen, aber noch nie erlebt. War er es, der das tat? Das streitende Ehepaar aus Wilde Erdbeeren : seine eloquente Gehässigkeit und ihre stumme Verzweiflung. Geschah das alles wirklich?
    Das Fahrzeug blendete auf.
    »FAHR NACH RECHTS! FAHR NACH RECHTS!«
    »Alles, was du willst.« Abrupt schwenkte er zurück auf die rechte Spur. Hörte wieder das Quietschen der Reifen, ein langes Hupen, und sah die Blicke aus dem vorbeischießenden Wagen. Der Beifahrer wischte mit der Rechten vor

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