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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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dadurch näher zu sein. Neben der Straße lagen runde Heuballen auf den Feldern und erinnerten ihn an früher. ›Kejen‹ hatte es geheißen, wenn das Heu zu kegelförmigen Haufen zusammengerecht werden musste, damit es nicht feucht wurde auf dem Feld. Bevor es schließlich in die Scheune kam. Allerdings war er nicht sicher, ob es sich bei dem Wort um ein Verb oder ein Nomen handelte. Wurde Heu gekejet oder zu Kejen aufgehäuft? Er wusste nur noch, wie sehr er die Arbeit gehasst hatte. Manchmal war alles nur für eine Nacht zusammengerecht und am nächsten Tag wieder ausgebreitet worden, angeblich weil das Heu dadurch weicher wurde und den Kühen besser schmeckte. Einer dieser bäuerlichen Mythen, die ...
    »Hartmut!«
    Erschrocken fuhr er auf. Ein paar Sekunden zu lange hatte er seinen Erinnerungen nachgehangen und nicht gemerkt,dass vor ihnen ein Kreisverkehr auftauchte. Sie flogen darauf zu, Maria zog Luft durch die Zähne, und Hartmut stieg mit aller Kraft auf die Bremse. Dank ABS blieb der Wagen stabil, aber sie wurden hart in die Gurte gepresst. Einen Moment lang erwartete er, die beiden Airbags vor sich aufploppen zu sehen. Wenige Zentimeter vor der weißen Linie kam das Auto zum Stehen. Synchron fielen sie zurück in die Sitze. Aus dem ihren Weg kreuzenden Pkw begegneten ihm vorwurfsvolle Blicke. Der Geruch von heißem Gummi wehte durch die Lüftung herein.
    »Tut mir leid«, sagte er und spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen. »Hier gab es früher keinen Kreisverkehr.« Auf dem Hinweg war er eine andere Strecke gefahren.
    Für einige Sekunden saßen sie reglos nebeneinander und atmeten tief durch. Soll ich im nächsten Dorf kurz halten?, wollte er fragen. Brauchst du was aus deiner Tasche? Betont langsam fuhr er wieder an, fühlte das Echo seines Herzschlags in der Kehle und wusste nicht mehr, worüber sie zuletzt gesprochen hatten. Maria drückte sich Zeige- und Mittelfinger gegen die Schläfen.
    »Sind wir bald da?«, fragte sie.
    »Viertelstunde.«
    Am Ausgang des nächsten Dorfes überquerten sie die Lahn und bogen ab auf die B62. Hartmut suchte nach einer Bemerkung, um die Stimmung aufzuheitern. Dass Maria sich nicht nach ihrer Tochter erkundigte, nahm er als Hinweis darauf, dass die beiden heute schon telefoniert hatten. Bei der Ankunft gestern Nachmittag hatte Philippa ihn mit einem Geschenk überrascht, einem kleinen Kissen mit in die Polsterung integrierten Lautsprechern, zum Anschließen an einen CD-Spieler. Gegen seine Einschlafschwierigkeiten wegen des Tons, erklärte sie. Dass sie das Produkt im Online-Shop der Deutschen Tinnitus-Liga erstanden hatte, dämpfte seine Freude ein wenig. Sollte er erzählen, wie er probeweise einen Ausschnitt aus der Matthäus-Passion hatte anhören müssen, in Ruths und Heiners Wohnzimmer auf dem Boden liegend, während der Rest der Familiesich im Halbkreis über ihn beugte. Ob es angenehm sei? Ob er sich schläfrig fühle? Könne er den Ton näher beschreiben? Sein Neffe Felix hatte von einer Hotline gehört, unter der man sämtliche bekannten Ohrgeräusche abhören konnte. Er schlug vor, Hartmut solle seinen Ton identifizieren, auf CD brennen und im Bett anhören. Wenn er von außen in sein Ohr gelange, sei es kein Tinnitus mehr, oder?
    Neben ihm machte Maria ein merkwürdiges Geräusch. Zuerst hielt Hartmut es für Schluckauf, aber als er den Kopf wendete, hatte sie sich nach vorne gebeugt, saß über ihre Knie gekrümmt und weinte mit bebenden Schultern. Einige Sekunden lang war er so überrumpelt, dass er nicht einmal fragen konnte, was sie hatte. Vergebens hielt er Ausschau nach einer Abzweigung oder Haltebucht, er konnte nur den Fuß vom Gas nehmen und seine rechte Hand auf ihre Schulter legen.
    »Schatz, was ist los?«
    Maria schüttelte den Kopf, ihr Schluchzen füllte den Wagen. Die Haare waren nach vorne gefallen und enthüllten ihren schlanken hellen Nacken.
    »Maria?« Seine Blicke hasteten zwischen ihr und der Straße hin und her, aber innerlich fühlte er sich merkwürdig ruhig. Es dauerte eine Weile, bevor sie den Oberkörper aufrichtete und nach einem Taschentuch suchte. Solche Zusammenbrüche waren selten, und er hätte Grund gehabt, mehr als nur gespannt zu sein auf ihre nächsten Worte.
    Maria schnäuzte sich und steckte das Taschentuch weg. Sah starr geradeaus auf die Straße.
    »Was geschieht mit uns?« Ihre Stimme klang fester als erwartet.
    »Was meinst du?«
    »Was geschieht mit uns? Warum können wir nicht mehr reden?«
    »Wir reden

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