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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Tiefgarage hinabsteigen, als er hinter sich Schritte hört. Dann ein verlegenes Hüsteln und schließlich die bekannte Stimme, die ihm im Ohr klingt, seit er am Morgen die drei rot gebundenen Exemplare der Doktorarbeit vorgefunden hat. Backsteindick lagen sie auf dem Schreibtisch. Eins der drei Exemplare ist der Grund, weshalb Hartmut seine Tasche abstellt, nachdem sie einander die Hand gegeben haben.
    »Guten Tag, Professor Hainbach.« Auch nach sechs Jahren in Deutschland sieht Charles Lin jedes Mal erleichtert aus, wenn er eine Begrüßung per Handschlag hinter sich gebracht hat.
    »Tag, Herr Lin.«
    In brauner Cordhose und hellem Hemd steht sein Doktorand vor ihm. Prinz Charles, nennt Frau Hedwig ihn trotz fehlender Ähnlichkeit. Er ist einen Kopf kleiner als Hartmut und lächelt schräg nach oben, in einer Haltung, als würde er strammstehen. In der linken Hand hält er seine eigene abgenutzte Ledertasche und sagt: »War ich heute Morgen schon in Ihrem Büro.«
    »Ich hab’s gesehen, Sie haben mir eine Nachricht hinterlassen.«
    »Ja. Eine aussprüchlich lange Nachricht, nicht wahr.«
    »Herzlichen Glückwunsch. Ich wusste nicht, dass Sie so bald fertig werden würden mit der Arbeit.«
    Herr Lin nickt gewichtig und scheint keinen Anstoß daran zu nehmen, dass sein Doktorvater den Fortgang der Arbeit offenbar mit weniger als brennendem Interesse verfolgt hat. Stattdessen äußert er einen seiner typischen Halbsätze, der zwar wörtlich genommen wenig Sinn ergibt, aber dennoch erkennen lässt, was er meint.
    »Stetige Bemühung zur Veräußerung des Geistes.« In seiner Doktorarbeit geht es um die Hegel-Exegese einiger obskurer chinesischer Denker, und vielleicht klingen deshalb manche seiner Ausführungen, als hätten Konfuzius und Hegel zusammen einen draufgemacht. Beim letzten Kolloquiumsvortrag hat das zu vereinzelten Lachern im Auditorium geführt.
    »Stetige Bemühung auch heute?«, fragt Hartmut. »Feiern Sie den Abschluss Ihrer Dissertation nicht?«
    »Nein. War ich in der Bibliothek.«
    »Verstehe. Aber heute Abend feiern Sie vielleicht.«
    Worauf ihm ein Lächeln antwortet, das sowohl Ja als auch Nein und außerdem alles dazwischen bedeuten könnte. Maria ist seinem Doktoranden einmal über den Weg gelaufen und meinte hinterher, Herr Lin habe traurige Augen. Das sagt sie gelegentlich über Leute und meint damit, dass sie ihnen gegenüber eine nicht näher ergründbare Sympathie empfindet. In Hartmuts Fall handelt es sich um eine milde Form von Antipathie, die in Vergessen übergeht, wenn sie einander zwei Wochen nicht sehen. Anstatt über die Gründe nachzudenken, überspielt er sie mit Freundlichkeit, oder versucht es zumindest. Einen Moment lang blicken sie schweigend auf den sonnigen Hofgarten, dann fragt Herr Lin unvermittelt: »Lieben Sie auch Rilke?« Offenbar hat der Abschluss seiner Dissertation ihn zwar nicht in Feierstimmung, aber in die Laune zu einem kleinen Plausch versetzt.
    »Rilke. Ich war mehr für die Expressionisten, damals. Als ich noch Zeit hatte, Gedichte zu lesen. Allerdings wusste ich nicht, dass Sie sich für Poesie interessieren.«
    »Das Herz und die Sinnlichkeit müssen nicht leer ausgehen. So hat Hegel korrekt festgestellt.«
    »In der Tat.« Das Herz und die Sinnlichkeit. In den vergangenen sechs Jahren hat Hartmut unzählige Ausschnitte von Herrn Lins Dissertation über Die Rückkehr des Weltgeistes nach China gelesen und könnte dennoch nicht sagen, ob der Text etwas taugt. Die regelmäßigen Gespräche in seiner Sprechstunde sind ebenfalls ergebnislos verlaufen. Demütig nimmt Herr Lin alle Anregungen entgegen und behandelt seinen Doktorvater gleichzeitig wie eine begriffsstutzige Respektsperson, der es mit höflicher Nachsicht zu begegnen gilt. Nicht ausgeschlossen, dass Hartmuts Abneigung auf sorgsam verschleierter Gegenseitigkeit beruht. Trotzdem, der Anlass verlangt wenigstens nach vorgetäuschtem Interesse.
    »Wenn ich fragen darf, Herr Lin, was sind eigentlich Ihre Pläne für die Zeit nach der Promotion?«
    »Zurück. Zu meiner Frau und Tochter. Schließlich der Aufstieg auf die Professur.«
    »Die ganze Zeit über, die Sie in Bonn waren, haben Ihre Frau und Ihre Tochter in China gelebt?«
    »Die ersten drei Jahre waren sie mit mir. Dann mussten sie zurück nach China, genau wie Weltgeist. Entschuldigung, hab ich einen Witz gemacht.« Und was für einen! Ob Herr Lin den pompösen Titel seiner Arbeit beibehalten oder ihn dem Rat seines Betreuers folgend geändert

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