Fliehkräfte (German Edition)
hat, weiß Hartmut nicht. Leise fluchend hat er den Backstein am Morgen eingepackt, ohne das Titelblatt anzusehen. Vor der Lektüre graut ihm jetzt schon. Weit außerhalb seines Kompetenzbereichs angesiedelt und stilistisch vermutlich ebenso unorthodox wie die wörtliche Rede des Autors. Ein echter Hauptgewinn.
Da ihm kein ungezwungenes Lachen gelingen will, fällt Hartmut nichts Besseres ein, als seinerseits mit einem Witz aufzuwarten: dem mit den drei Geistlichen und der Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens. Sein Doktorand hört aufmerksam zu, zeigt keinerlei Regung bei der Pointe und scheint gespannt auf die Fortsetzung zu warten. Erst nach ein paar Sekunden nickt er und sagt: »Das ist wirklich voll komisch.«
»Ein Witz meiner Tochter. Zwanzig Jahre alt.«
»Offenbar hat sie schon eine sehr erfahrene geistige Stufe.«
»Das kann man sagen, ja. Obwohl sie Ernährungswissenschaften studiert. Wissen Sie, was Ernährungswissenschaften sind?«
»Ich bange nicht.«
»Ich auch nicht. Aber es interessiert sie, da ist man als Vater machtlos, nicht wahr.« Hartmut zuckt mit den Schultern. Obwohl er keine Lust dazu hat, erwägt er die Möglichkeit, Charles Lin auf ein Bier am Alten Zoll einzuladen und danach direkt rüber nach Beuel zu fahren. Er hat starken Durst und könnte die Ablenkung gebrauchen, außerdem überkommt ihn einAnflug von Mitleid mit dem armen Kerl. Vermutlich haust er in einem kahlen Wohnheimzimmer in Tannenbusch, wo er am Abend Rilke oder Hegel lesen wird, statt mit jemandem auf den Abschluss seiner Dissertation anzustoßen. Nach sechs Jahren einsamer Arbeit. Ihn hat Sandrine damals zu seinem ersten Hummeressen eingeladen.
»Yeaaah!«, ruft hinten einer der Frisbeespieler.
Doktoranden wie Charles Lin gehören seit langer Zeit zu seinem akademischen Schicksal. Als Absolvent einer amerikanischen Universität hat er nach dem Amtsantritt am Rhein eine Ein-Mann-Perestroika gestartet, mit immer offen stehender Bürotür und allerlei weiteren Reformansätzen, die ihm am Institut den zweischneidigen Ruf eines studentenfreundlichen Dozenten eingetragen haben. Folglich sind ihm in den ersten Jahren scharenweise Dreißigjährige zugelaufen, die noch keinen Schein erworben hatten und mühsam zur Reorganisation ihrer geistigen Produktionsverhältnisse erzogen werden mussten. Heute gibt es solche Fälle zwar nicht mehr, aber Hartmuts Ruf hat sich erhalten und lockt von den Studierenden aller Länder diejenigen an, die wegen Sprachbarrieren, Geldmangel oder Heimweh keine Spitzenleistungen erbringen können. Vermutlich kümmert er sich um sie, weil sie ihn daran erinnern, wie er in Stan Hurwitz’ Sprechstunde alle Fragen mit einem Nicken beantwortete und heilfroh war, wenn der Riese hinter dem Schreibtisch ihn mit den Worten entließ: Don’t you worry, son. We’ll get you through this. Leider hat die Bemühung um eine Universität mit menschlichem Antlitz ihren Preis. Bei der Nomenklatur gilt Kollege Hainbach als Schleusentor für Elemente, die es gar nicht verdient hätten, die rheinische Kaderschmiede mit einem Zeugnis in der Hand zu verlassen. In Charles Lins Fall hegt Hartmut selbst entsprechende Zweifel, aber um die zu erhärten, müsste er verstehen, was der Mann eigentlich macht. Genau dieser Versuch, und nicht etwa ruhiges Nachdenken über die Zukunft, scheint ihm in den kommenden Tagen bevorzustehen. Vor sich hergeschoben hat er die Aufgabe lange genug.
Für heute beschließt er, auf ein Feierabendbier mit Doktorand zu verzichten. Der Tisch ist für acht Uhr reserviert, und er muss vorher noch einkaufen, duschen und sich einen plausiblen Text zurechtlegen. Frau Müller-Graf hat seine Einladung ohne zu zögern angenommen, aber er wird vorsichtig sein müssen bei der Formulierung seines Anliegens. Auf Uni-Fluren wird viel getratscht. Mit einem Nicken nimmt Hartmut die Hände vom Geländer und greift nach seiner Tasche.
»Herr Lin, ich muss los. Für den Rest der Woche werde ich nicht in meinem Büro sein, aber nächste Woche kommen Sie bitte bei mir vorbei. Am Donnerstag. Wir müssen ein paar Dinge besprechen. Vor allem brauchen wir einen Zweitgutachter für Ihre Arbeit, falls Sie noch keinen haben. Am besten jemanden, der sich mit China auskennt. Wie Sie wissen, gilt das für mich nicht, und Herr Tauschner ist nicht mehr am Institut. Kennen Sie Herrn Neuhaus von der Sinologie?«
»Professor Neuhaus, ja. Kennt sich mit China nicht gut aus.«
»Nicht. Nun, wir brauchen jemanden, Herr Lin.
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