Fließendes Land (German Edition)
gestellt und essen, auf improvisierten Stühlen nebeneinandergereiht, die Teller auf den Knien. Blaue Fischernetze hängen im Hibiskus, im Mangobaum wie Dörrobst. Neben einer geflochtenen Fischerhütte spritzt eine Mutter mit einem Gartenschlauch ihren jungen kurzgeschorenen Hermaphroditen ab. Er zappelt unter dem Strahl und läuft ihr dann entgegen in das Handtuch, das sie lachend nun mit den Armen für ihn aufspannt.
Beim Avamanini-Paß kommt das Riff in einem weiten Bogen an den Strand und wird bei Ebbe zur porösen Promenade durch einen erntebereiten Meeresgarten voller Muscheln, Schnecken, Krabben, Langusten. In Prielen zucken Fische, tote Garnelen treiben durch schwimmende Algenfinger. Dann wischt das tosende Meer das Bild aus, um im Rückzug ein neues zu entlassen. Mit Messerchen und Plastiktüten waten Frauen durch das diffuse Fluten. Ein Griff, und schon ist eine dicke Schnecke abgebrochen, die ihren Fuß einzieht und das Gehäuse mit einer kalkigen Scheibe schließt. Ein Messerstich in eine unauffällige Wellenlinie im Sand, und schon schließen sich die Lippen der Auster fest um die Klinge und die Beute kann unter Schütteln herauszogen werden. Zum Ozean hin fällt das Riff stellenweise steil ab, dort stehen Fische in den Farben von Schmetterlingen.
In einem Windstoß hat das Wetter umgeschlagen. Im Regen ist der Truck ein Schiff, dessen Sprossenleiter an Deck führt. Er rast durch die Pfützen, die sich im Nu bilden. Er poltert durch die Palmen im schrägen Guß. In einem Kokoshain stehen weiße Kühe still. Durch die offenen Fenster spritzt das Wasser wie Gischt. Motorrollerfahrer haben ihre Bodyboards vor die Knie geklemmt und überholen mit eingezogenen Köpfen. Die Straße taucht unter in Wasser und Dunst. Fische hängen im Regen. Und durch die Fluchten zwischen den Wellblechhütten, den Tankstellen, den Supermärkten und Tempeln schickt das Meer seine verläßlichen blauen Leuchtzeichen.
»7 km« oder Das Feld der Wunder
Und auf einmal konnte man alles kaufen! Lora, zart geschminkte Rentnerin, streicht ihr rotgoldenes Haar aus dem Gesicht. Sie erinnert sich noch genau. Sie räumt die Suppenschalen weg und kommt mit einem geblümten Teller zurück. Vor uns zittert nun ein glubschäugiger Lachskopf auf dem Resopaltisch. Wir sitzen in Loras Küche in Ovidiopol am Schwarzen Meer. Der Ort, sagt Kirill Golovchenko, der junge Photograph aus Odessa, nennt sich nach Ovid, weil man glaubt, er sei hierher verbannt worden. Iß die Bäckchen, sagt Lora, und greift hinter die Kiemen. Vor 1991 fuhr hier jeder, der konnte, nach Moskau, sagt sie, einmal im Jahr. Sie habe das auch gemacht, für die Kinder. Von Odessa 36 Stunden mit dem Schnellzug. Und dann brachte sie Butter mit, Schokolade, Wurst und Wäsche, ja deutsche Wäsche, die guten Unterhosen. Und auf einmal konnte man hier alles kaufen.
Mit der Perestroika wuchs in Odessa beim Busbahnhof ein kleiner, halb illegaler Flohmarkt. 1989 war er so groß, daß er vor die Stadt ausgelagert wurde, sieben Kilometer entfernt auf eine stillgelegte Deponie, die man schnell sauber asphaltiert hatte. Die ersten Verkaufsstände waren auf dem Boden ausgebreitete Zeitungen. Dann kamen Klapptische aus Plastik und Leichtmetall, hölzerne Stände, Zelte. Die Odessiten nannten das Areal nun auch »Feld der Wunder«. Und alle staunten.
1995 kam ein unbekannter Held der neuen Zeit auf eine Idee. Ihm waren die ausrangierten Schiffscontainer im Hafen von Odessa aufgefallen. Die standen herum und rosteten. Heute ist der »7 km«, Europas größter Freiluftmarkt, eine Containerstadt der irrlichternden Möglichkeiten. Auf dem Gemeindeland von Ovidiopol laufen in vier schachbrettartig angelegten Arealen über rund 70 Hektar Straßen aus 16 000 ausrangierten Schiffscontainern. Sie stehen meist doppelstöckig übereinander: unten der Verkaufsraum, oben das Lager. Eine eiserne Sprossenleiter verbindet sie. Jeder Container hat eine Nummer. Und damit sich keiner verläuft, wurden die Container angestrichen. Die Farbe ist der Name: Rosa Straße, Graue Straße, Grüne Straße, Aprikosenfarbene Straße, Hellblaue Straße, Blaue Straße. In den bunten Quadern des »7 km« arbeiten 60 000 Menschen. Damit ist der Markt einer der größten Arbeitgeber der Region. An manchen Tagen kommen bis zu 250 000 Einzelkäufer und Zwischenhändler; der Tagesumsatz liegt im Schnitt bei 20 Mio. Dollar.
Aus den Schiffscontainern wird der Luxus gelöscht. »Billigprodukt« ist ein häßliches Wort. Aber der
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