Fließendes Land (German Edition)
war nicht gekommen. Die Dame mit der Orange sagte über die abwesend Schauende, sie sei gestern kurz im Krankenhaus untersucht worden, Ischias vielleicht. Ich habe, sagte die Dame mit der Fliege, in drei Jahren schon vierzehn gehen sehen.
11.
Die Ecke des Couchtisches war feierlich gedeckt. Auf einem kleinen weißen Leinentuch standen auf zwei silbernen Untersetzern zwei Weingläser. Daneben zwei kleine Porzellanteller mit zwei Rosenservietten. In einer gläsernen Schale Vollkornkekse. Eine Flasche Rotwein, aus einem Weingut bei Bingen. Sie hatte sich auf ihr Kommen vorbereitet.
Ich hatte ein buntes Leben, sagte sie.
Als Jugendliche kränklich, Ausbildung abgebrochen, Schneiderlehre, Diakonissin, reisende Diakonissin zwischen Harz und Nordseeküste, dann nochmals studiert. Abschluß in Pädagogik, jahrelang Grundschullehrerin. Priorin in Wienhausen. Liebte das Meer. Helgoland. Wie sie von ihrer Küche erzählte in Wienhausen, vom Blick hinaus in den Garten. Von der Einladung des Vetters nach Afrika, und wie sie dann doch nicht fahren konnte, weil ihr Vater einen Schlaganfall hatte und starb. Ledig, keine Kinder. Pflegte vom 33. Lebensjahr und dann 17 Jahre lang die Mutter.
Hat ihr Testament gemacht. Trägt einen gefalteten Zettel im Geldbeutel, auf dem vermerkt ist, daß sie keine lebensverlängernden Maßnahmen wünsche. Man solle ihr den Tod gönnen.
Ich bin nicht stabil, sagte sie, ich bin instabil. Deshalb bin ich hier. Einmal in der Woche mit Bus und S-Bahn in die Stadt zur Seniorenakademie. Danach gehe ich in ein Cafe essen, sagte sie, sie kennen mich schon, das ist schön.
Und Helgoland? Wann sie wieder nach Helgoland fahre?
Sie lächelte. Sie habe Abschied genommen, das letzte Mal im Sommer. Nun wolle sie noch einmal für ein paar Tage nach Wiesbaden zu einer Freundin fahren, die sie seit 60 Jahren kenne.
Sie stand auf. Sie holte einen Bildband. Sie zeigte eine Photographie der Holzskulptur des Gekreuzigten aus Wienhausen. Dann nahm sie ein kleines gerahmtes Photo vom Regal. Das habe ich gemacht, sagte sie.
Aber das ist eine andere Skulptur!
Nein, antwortete sie.
Ihr Christus hat menschliche Züge!
Wenn man, sagte sie, vor so etwas steht, dann muß man in die Knie gehen und dann photographieren.
Wie wichtig ist der Glaube für die Frauen, die in diesen Klöstern zusammenleben? Das, antwortete die Dame mit der Orange, könne man heute nicht mehr so sagen.
12.
Mittagessen. Kartoffeln, gekochte Eier in Senfsoße, Salat. Zum Nachtisch Apfelbrei. Ergebnis unserer Herbsteinsätze, sagte die Äbtissin. Der Vamp, der, wie sie mittlerweile erfahren hatte, die ehemalige Äbtissin von Marienwerder war und vorher als Konventualin in Kloster Lüne lebte, sagte, daß sie den Gärtner überredet habe, die Quitten mit dem Holzschredder zu bearbeiten. Das geht nicht, habe der gesagt. Ich weiß, daß das nicht geht, habe sie geantwortet: Aber versuchen Sie es. (Natürlich ging es.) Sie war gelernte Gärtnerin und jedes Jahr die erste, die im Frühling sah, daß der Lerchensporn lila und weiß in der Hinüberschen Gartenanlage blühte.
Eine neue Frau war gekommen. Zart, sehr gut gekleidet, nicht dicke Wolle, sondern Seide, wie zu einer Teegesellschaft in Romanen aus dem 19. Jahrhundert. Die Haare in graumelierten Locken hochgesteckt. Starker Buckel, gehbehindert. Melancholisch. Sie hörte schlecht. Sie war Lehrerin gewesen, Äbtissin. Die Äbtissin begrüßte sie am Tisch. Die Zarte hob den milchigen Blick und sagte, daß sie sich innerlich und äußerlich einfügen wolle.
Abendessen. Gespräch über das Garbenbinden. Man muß, sagte der Vamp, mit der Sense einmal ausholen, was dann am Boden liegt – und es muß gut beieinanderliegen –, ist eine Garbe. Nach dem Gebet und dem Amen teilte der Vamp wieder die abgegriffenen Liederbücher aus. Sie sangen wie jeden Abend. Heute Kein schöner Land.
13.
Wienhausen, sagte die Geigerin spontan nach dem Frühstück, wollen wir nach Kloster Wienhausen fahren?
Die Äbtissin von Wienhausen empfing sie zum Tee. Silbernes Service, Gebäck. Sie war eine große, sehr gut gekleidete Frau, jetzt 60 Jahre alt, seit 10 Jahren Äbtissin. Vorher Studium, Ehe, Kinder, Scheidung, Hotel geführt. Erzählte, daß eine ihrer Klosterfrauen mit 70 ausgezogen sei, weil sie noch einmal heiraten wollte.
Sie schlossen sich der Klosterführung einer 80jährigen Konventualin an, dann außerplanmäßig, auf Bitte der Geigerin, wurden sie durch das Teppichmuseum geführt. Der Tristanteppich,
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