Fließendes Land (German Edition)
der Jagdteppich. Zeugnisse weiblicher Handarbeit, Seelenarbeit. Frauenzeit. Die Konventualin ließ die Zarte grüßen, auch die kleine Baltin mit Kater Pippin. Sie solle brav sein.
14.
Wann ist man alt?
Wenn man sich alt fühlt. Wenn ich schwimme oder Auto fahre, bin ich nicht alt (die Geigerin, 85). Wenn man resigniert (die Dame mit der Orange, 80). Ich bin alt seit meinem Schlaganfall vor zwei Jahren. Vorher konnte ich noch alles machen (die Dame mit der Fliege, 92). Die Gesundheit spielt schon eine Rolle. Wenn man solche Gräten hat wie ich (der Vamp, 83).
15.
Heute Resteessen. Kartoffelbrei, Kartoffeln, Gemüseschnitten, Reste von gebackener Aubergine, noch einige Fleischküchlein. Zum Nachtisch Rote Grütze (aus Klosterbeeren) und Karamelpudding. Der Vamp streute eine Prise Salz auf den Pudding. Das mache sie auch mit Erdbeeren; ihre Mutter habe Apfelschnitze nur mit einer Prise Salz gegessen. Salz ist ein Geschmacksverstärker, sagte der Vamp.
16.
Frühstück. Die Sorgfalt sich selbst gegenüber. Die Dame mit der Orange mache jeden Morgen Gymnastik, Kopfhautmassage, Gesichtsmassage, Ohrläppchenpressur. Die Geigerin sagte, es habe keinen Sinn, im Alter mit Gymnastik anzufangen, man müsse früh anfangen. Die Dame mit der Fliege kam zu spät. Man hat mich vergessen, sagte sie. Die Stützstrümpfe, sagten die andern. Sie kann die Stützstrümpfe nicht alleine anziehen. Man sprach über die Zarte, die jetzt ein Appartement des betreuten Wohnens bekommen habe. Sie könne das nicht mehr. Sie könne ja nicht einmal alleine von ihrem Appartement zum Essen kommen. Sie sei schon ein wenig jenseits, sagte die Geigerin. Ja, das sehe ich auch so, sagte die Frau mit der Orange, ich kenne sie anders.
Die pädagogisch laute Freundlichkeit des Pflegepersonals. Das Küchenpersonal lockerer, auch die Putzfrauen.
Mittagessen: Kartoffeln, Quark, Matjes mit Zwiebeln, zum Nachtisch Milchreis mit Zimt und Zucker.
Die Äbtissin mußte mit einer Bewohnerin zum Zahnarzt. Die Äbtissin hat 48 Kilo, da schiebt sie eine, die das Doppelte wiegt. Ich schiebe sie nicht mehr. Und wenn du sie schiebst, da kannst du noch froh sein, wenn sie nicht krummer Hund zu dir sagt. Ich habe sie einmal geschoben, da hat sie gesagt: schneller! Da habe ich sie grad stehen lassen. Alle lachen.
Beim Frühstück sagte die Geigerin, man lebe hier schon wie in einer Familie. Da gebe es Luxusseniorenheime, aber mit 500 Betten. Da verlaufe man sich doch.
Die Äbtissin sagte vom Gegangensein: Alle Bewohnerinnen stehen an der Tür im Garten. Dann spreche sie einige Worte, und alle nehmen Abschied. Der Sarg wird hinausbegleitet. Nicht wie anderswo, nachts durch den Lieferanteneingang.
Nachmittag. Der Vamp saß auf dem Rollator und schnitt Buchsbaum. Sie fragte um Rat wegen ihrer Johannisbeeren in den Bergen. Die roten und die weißen seien unkompliziert, sagte der Vamp, die schwarzen könnten schwierig werden. Einzelne hochgewachsene, starke Zweige um ein Drittel kürzen, dann verzweigten sie sich, brächten Früchte. Die Zöpfe lassen, aber die Haare schneiden! Wollen Sie Holz oder Beeren?
17.
Musikstunde. Die Konventualin mit dem schmalen Mund, die für das Anreichen des Essens der Schwerkranken zuständig ist, am Synthesizer in ihrem Zimmer. Die Geigerin erklärte ihr den Quintenzirkel. Vor einem Jahr hatte sie ihr zum 70. Geburtstag Klavierstunden geschenkt. Die Konventualin mit dem schmalen Mund war ehemalige Krankenschwester. Drei Jahre nachdem ihr Mann mit 60 Jahren an Kehlkopfkrebs gestorben war, ist sie ins Kloster Marienwerder eingetreten. Kinderlieder. Freude schöner Götterfunken. Die Geigerin notierte den Fingersatz. Später ging sie wie jeden Abend mit dem Hund Karlinchen durch den Park zum Friedhof. In einer blauen Ampel zündete sie eine neue hellblaue Kerze an. Das kleine Urnengrab ihres Mannes schien im flackernden Licht wie mit Blumenpolstern bestickt.
18.
Im nächtlichen Gang stand die Tänzerin neben ihrem Rollstuhl. Sie legte den Kopf in den Nacken, streckte ein Bein lang und gerade aus und legte es auf die Stange des Handlaufs.
19.
In der Lüneburger Heide habe es zahlreiche perlmuschelführende Fließgewässer gegeben. Die im frischen Zustand noch weichen Perlen wurden mit einer dünnen Eisennadel durchbohrt, die in einen Holzblock eingelassen war und mit einem Schwungrad aus Blei zum Rotieren gebracht werden konnte. Nun wurden die Perlen auf die Stickerei appliziert. Schon in frühchristlicher Zeit seien die Perlen mit
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