Flirtverdacht Roman
durchschauen. Aber der Mann in der Toilette war Amerikaner. Und seine wahren Absichten waren für mich sonnenklar. Lag es wirklich nur an der Sprache? Beruhte das Geheimnis meiner besonderen Fähigkeit zum Männerdurchschauen nur auf der Nationalität?
»Wissen Sie«, begann ich vorsichtig und behielt die Toilettentür im Auge, »er hat nicht die Möglichkeit, nach Brüssel auszuweichen.«
Der Franzose sah mich ungläubig an. »Was sagen Sie da?«
Ich fuhr fort, langsam und gründlich die Bar abzuwischen. »Ich habe mitgehört, was er gesagt hat. Dass er die europäische Niederlassung in Brüssel ansiedeln will.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist gelogen. Er muss sie in Paris gründen.«
Der Mann musterte mich weiter aufmerksam. »Woher wissen Sie das?«
Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich weiß es einfach. Die Lüge ist für mich so offensichtlich wie der Weinfleck auf Ihrem Hemd.«
Er sah auf sein besudeltes pinkfarbenes Hemd und wischte fahrig mit der Serviette darüber. Der Fleck interessierte ihn viel weniger als die fragwürdige Information, die ich ihm gerade geliefert hatte.
»Und beides tut mir leid«, fuhr ich leise fort. »Der Fleck und die Lüge.«
Wieder folgte verblüfftes Schweigen. Er war sich nicht sicher, was er von dieser neuen Entwicklung halten sollte. Oder ob er sie überhaupt glauben sollte. »Und was soll ich jetzt ich tun? Was schlagen Sie vor?«
Ich warf den mittlerweile roten Lappen in einen Eimer mit Seifenlauge zu meinen Füßen. »Gehen Sie nicht auf seine Forderungen ein. Er mietet trotzdem bei Ihnen.«
Genau in diesem Augenblick kam der Amerikaner aus dem Waschraum und legte einen Fünfzig-Euro-Schein auf die Bar. »Verschwinden wir hier«, sagte er. »Ich habe morgen früh eine Telefonkonferenz mit dem Büro in New York.«
Der Franzose nickte abwesend und folgte seinem Geschäftspartner aus der Tür. Er warf einen letzten forschenden Blick in meine Richtung, und ich lächelte zurück, froh darüber, dass ich einen Ratschlag hatte erteilen können, der nichts mit dem Liebesleben zu tun hatte. Ob er ihn nun annahm oder nicht.
Kurz darauf erschien Pierre und bestellte sein übliches Kronenbourg-Bier. Wie jeden Abend blieb er auch heute, bis es Zeit zum Schließen war. All das gehörte zu unserem üblichen Tagesablauf. Manchmal fragte ich mich, ob er wirklich nichts Besseres zu tun hatte, als an fünf Abenden pro Woche herzukommen und an der Bar Bier zu trinken. Doch ich ging einfach davon aus, dass er meine Gesellschaft ebenso genoss wie ich die seine. Er erzählte mir immer lustige Geschichtchen und Witze, während ich an der Bar aufräumte und die Kasse machte. Und nachdem Carlos hinter uns die Tür abgeschlossen hatte, bot Pierre mir in der Regel an, mich bis zu meiner Wohnung zu begleiten, während ich immer betonte, dass sei nicht notwendig, da ich schließlich nur einen Block entfernt wohnte. Dann verabschiedeten wir uns mit einem Kuss auf beide Wangen.
Ja, er war attraktiv, und mir war schon aufgefallen, wie die amerikanischen Touristinnen und sogar die einheimischen Französinnen ihn ansahen, wenn sie ins Café kamen. Aber für mich war er nicht mehr als das: ein Kuss auf beide Wangen.
Und er schien mit unserer oberflächlichen, platonischen Beziehung vollkommen zufrieden zu sein. Ging nie einen Schritt weiter, deutete niemals an, dass mehr aus uns werden könnte als nur Freunde.
Und daher traf es mich wie aus heiterem Himmel, als er mich fragte, ob ich mit ihm ausgehen würde.
Im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich es hätte ahnen müssen. Man sollte eigentlich meinen, dass jemand, der sich seinen Lebensunterhalt mit Flirten verdient hatte, so etwas spüren müsste. Aber aus welchem Grund auch immer, ich hatte nicht damit gerechnet.
Carlos hatte gerade die Tür hinter uns abgeschlossen, und ich knöpfte mir noch den Mantel zu, als Pierre fragte: »Tu veux dîner avec moi demain soir?«
Ich hielt mitten im Knöpfen inne, meine Hände fielen zu meinen Seiten hinab. Langsam wandte ich Pierre den Kopf zu und versuchte dabei zu verhindern, dass man mir meine Irritation ansah.
Ich wusste, wie der Satz zu übersetzen war: »Willst du morgen Abend mit mir essen gehen?« Dîner ist eines der klassischen französischen Verben, die man schon früh lernt, weil sie leicht zu merken sind und regelmäßig konjugiert werden.
Aber ich war mir nicht sicher, welche Art von »essen« er meinte. Denn es ist ja eindeutig ein Unterschied, ob man sich ein
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