Flöte und Schwert
können. Rasch kehrte er zur Küche zurück. Dort las er wieder und wieder Nadirahs Botschaft, und als er den Blick von den Worten löste, war die Welt bunt und klar und neu.
Heute Abend spiele ich für dich, Geliebte.
Nachdem die Arbeit getan war, schnitzte er aus dem Rest des Bambus eine neue Flöte. Diesmal ging es ihm leicht von der Hand, und als er den ersten Ton blies, freute er sich über den warmen, sanften Klang seines Instruments. Kurz vor Sonnenuntergang stieg er auf das Dach des Küchengebäudes und sah zum Palast hinüber. Einige Fenster waren erleuchtet.
Omar ließ sich auf der Mauer nieder und begann zu spielen. Zunächst waren seine Finger etwas störrisch, doch schon nach wenigen Takten war ihm, als habe er nie etwas anderes getan, als zu musizieren. Die Töne flossen aus ihm heraus, frei und ohne die Fesseln einer vorgegebenen Melodie, und begleiteten die Freude, die in ihm sang. Dann fand sein Spiel wie von selbst zum Lied vom Sperling und der Libelle. Auf die einleitende Melodie folgte die erste Strophe, und als der Refrain einsetzte, erklang von einem Fenster des Palasts Gesang, lieblich und rein. Nadirah sang zu Omars Musik, so wie sie es früher getan hatte, und bald spielten Gesang und Flöte miteinander, mal neckend, mal zärtlich, dann wieder ausgelassen. Die Nacht brach herein, und es kühlte rasch ab. Omar bemerkte nichts davon. Er spielte und spielte und lauschte gleichzeitig Nadirahs Gesang.
Dann verklang der letzte Ton. Omar setzte die Flöte ab und öffnete die Augen. Der Mond hing wie ein Leuchtfeuer über dem Zwiebeldach des Palasts. Erst jetzt spürte er die Kälte. Nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht. Nadirah zeigte sich nicht, doch Omar wusste nun, dass sie auf ihn wartete, dass sie immer warten würde, gleich, was geschah.
Am nächsten Morgen waren Omars Gedanken so klar wie seit Wochen nicht mehr. Neue Kraft und frischer Tatendrang durchströmten ihn. Als er später zur Kornkammer ging, wurde er sogar von zwei Dienern angehalten, die ihm für sein Flötenspiel danken wollten.
Während er das Mittagsmahl für die Soldaten zubereitete, brach draußen auf dem Hof ein Tumult aus. Stimmen redeten durcheinander, eine Frau schluchzte. Der Hauptmann befahl den Leuten barsch, wieder an die Arbeit zu gehen. Hassan ging nachsehen, was es mit dem Tumult auf sich hatte. Wenig später kam er aufgeregt zurück. „Bei Allah!“, keuchte er, „das glaubst du mir nicht!“
Omar erstarrte innerlich. Er musste Hassan nur anschauen, um zu wissen, was geschehen war.
Glücklicherweise war der Koch zu aufgewühlt, um Omars Blässe zu bemerken. „Einer der Diener ging in den Keller, um gepökeltes Fleisch für den Herrn zu holen“, sagte er. „Rate, was er im Bottich gefunden hat.“
„Ich weiß nicht“, sagte Omar schwach.
„Eine Leiche!“ Hassan wanderte unruhig durch die Küche und fuhr sich dabei durch das schüttere Haar, dann holte er eine Weinflasche aus dem Regal, entkorkte sie und trank. „Du auch?“
„Danke, nein“, murmelte Omar. Seine Rechte schloss sich um den Griff des Messers; so behielt er das Zittern besser unter Kontrolle. Er zwang sich zu einem Grinsen. „Wer sollte eine Leiche in den Salzbottich werfen?“
Hassan schien ihn nicht zu hören. „Der arme Kerl ... die Kehle aufgeschlitzt wie ein schlachtreifer Hammel.“ Er schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck. „Er war ein anständiger Junge. Hätte einen guten Hauptmann abgegeben.“
Das Gefühl der Schuld kehrte jäh und sengend zurück. Omar stellte die Frage, die ihn am meisten quälte: „Weiß man schon, wer es getan hat?“
„Nein“, erwiderte Hassan, „aber ich bete, sie finden diesen Hund!“
Immer neue Gerüchte ließen die Festung brodeln. Omar fragte sich wieder und wieder, ob er in jener Nacht verräterische Spuren hinterlassen hatte. Zu seinem Erschrecken stellte er fest, dass er sich nicht mehr an alle Einzelheiten seiner Bluttat erinnern konnte – das bleiche Gesicht des Kriegers überlagerte die anderen Bilder. Während er im Speisesaal der Soldatenunterkunft das Essen austeilte, lauschte er den Gesprächen der Männer. Niemand wusste Genaues über die Tat oder den Mörder. Stattdessen erging man sich in wilden Vermutungen. Einige der Männer hielten es gar für möglich, dass ein Dämon, eine Kreatur Al Tufails, den Krieger getötet hatte, um sich an seinem Blut zu laben. Omar gratulierte ihnen im Stillen für ihren Scharfsinn und kehrte erleichtert zur Küche
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