Fluch der 100 Pforten
los«, sagte Henry. Sein Mund schmeckte nach Erbrochenem und nach alten Lappen. Aber er war ausgespült worden. Auch das Gesicht hatte man ihm gewaschen. »Jetzt ist Schluss mit Herumschnibbeln und Elixieren! Machen Sie mich los.« Hoch oben in den Wänden befanden sich Fenster und Henry sah in das weiße Licht, das in den Raum fiel. Er hätte gern gelächelt, er hätte grinsen und lachen wollen, wenn sich sein Kiefer nicht wie gebrochen angefühlt und sein Bauch nicht so geschmerzt hätte. Wenn er nicht auf einem Tisch angegurtet gewesen wäre, in der Welt eines Wahnsinnigen.
Jetzt kam der Kerl in Sicht. Er war klein, mittleren Alters und sah nach den Maßstäben jeder Welt völlig normal aus. Er trug eine Brille, mit der man ihn für einen Mathematiklehrer hätte halten können, wenn sein Hemd nicht mit Blut beschmiert gewesen wäre. Sein Gesicht verriet keinerlei Rührung.
»Tut mir leid«, sagte er. »Der Wandelkrampf war wesentlich schwächer, als Darius gehofft hatte, und hat zu früh eingesetzt. Jetzt ist er vorbei, und das Benennungsritual konnte
nur zur Hälfte durchgeführt werden und ist somit unwirksam. Für mich wäre es besser gewesen, wenn du gestorben wärst. Nun wird Darius uns beide umbringen.«
»Ich bin aber froh, dass ich nicht gestorben bin«, entgegnete Henry. »Und einen Namen habe ich schon. Könnten Sie mich jetzt bitte losmachen?«
Der Mann beugte sich vor und hielt Henry eine Ampulle vor die Nase. »Trink das«, sagte er.
»Warum?« Henry wandte seinen Kopf ab. »Was ist das?«
Der Mann antwortete nicht. Stattdessen drückte er Henry die Ampulle an den Mund. Henry presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Dabei sah er dem Mann fest in die Augen. Der Mann seufzte und erhob sich.
»Sie wollen mich umbringen«, sagte Henry.
»Das ist die einzige Lösung. Ich lege keinen Wert auf Darius’ Zorn, und ich will auch nicht, dass er dich an meine Stelle setzt. Ich hatte gehofft, du würdest sterben. Und ich hoffe es noch immer.«
Henry versuchte seine Panik zu beherrschen. Wenn der Mann ihn umbringen wollte, standen ihm dazu alle Möglichkeiten offen. »Hören Sie«, begann Henry. »Wenn Sie mich umbringen, wird Darius es bemerken. Lassen Sie mich einfach gehen. Lassen Sie es wie eine Flucht aussehen.«
Der Mann lachte. »Diese Gurte schüttelt niemand ab.«
»Darius schon«, entgegnete Henry schnell. »Und er glaubt, dass ich ebenfalls Kräfte besitze. Er denkt, ich sei von einer Art magischem Blitz getroffen worden. Dabei stimmt das gar nicht. Es war bloß ein Löwenzahn. Aber lassen Sie ihn in dem Glauben! Wenn er daran hängt …«
»Ein Löwenzahn?«
»Ja. Ein ganz gewöhnliches Unkraut. Kein Blitz.«
»Und du wirst niemals zurückkehren?«
»Soweit ich es in der Hand habe, nein.«
Der kleine Mann entfernte sich aus Henrys Blickfeld und im nächsten Moment hörte Henry, wie dicke Nägel auf den Boden fielen und das Scheppern im Raum widerhallte. Er fühlte, wie die Ledergurte gelöst wurden und zog einen Arm heraus.
Der Mann lief um ihn herum und löste eine Fessel nach der anderen. Dann fasste er Henry an den Händen und half ihm, sich aufzusetzen. Henry krümmte sich vor Schmerz und sah auf seinen Bauch, wo ein Zeichen flach in die Haut geritzt war. Es sah ein bisschen aus wie ein Baum, ganz anders als das Mal, das er in Darius’ Hand gesehen hatte.
»Es blutet gar nicht.«
»Nein«, sagte der Mann. »Dafür sorgt das erste Elixier. Bei einem späteren Ritual hätte Darius ein weiteres Elixier in die Wunde geschmiert.«
»Ich brauche Verbandszeug und ein Hemd«, sagte Henry.
»Tut mir leid, dazu ist keine Zeit. Ich habe dich befreit, und mehr kann ich nicht tun. Du befindest dich zwei Stockwerke über dem Erdboden. Du bist durch die Serviceniederlassung der Sulie Post hierher gekommen, zwei Milongs von hier entfernt. Halte dich Richtung Süden, und das Glück sei mit dir!«
Der Mann wandte sich eilig von Henry ab und ging zurück zu einem kleinen Tisch, der mit Vorratsgläsern, Flaschen und Schalen vollgestellt war. An einer Seite lag ein dicker, orangefarbener
Schwamm. Henry beobachtete, wie der Mann sorgfältig ein Vorratsglas auswählte und vorsichtig seinen Finger hineintauchte. Dann wandte er sich um.
»Verschwinde!«, sagte er und schob seinen Finger unter seine Zunge. Einen Moment lang stand er da und sah Henry fest in die Augen. Dann begannen seine Beine zu zittern. Er stolperte rückwärts, tastete nach dem Tisch und schleuderte dabei die
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