Fluch der 100 Pforten
an und zuckte zusammen, als er damit seine Schnittwunden berührte. Nicht mal so sehr, weil es wehgetan hätte. Der Schmerz war gar nicht so heftig. Sondern eher wegen des Schreckens, als die Wundränder auf und zu klappten, was aussah, als müsste es wehtun. Und zwar nicht wenig. Henry öffnete seinen Rucksack und sah hinein. Großvaters Notizbücher waren mit den Gummis zusammengeschnürt und auch die Taschenlampe lag noch daneben. Henry nahm den Rucksack über die Schulter und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.
Er legte gerade die Hand auf die Türklinke, als er Stimmen hörte. Eine Stimme.
»Mein Sohn soll Xerxes heißen. Auf nichts anderes richtet sich mein Denken. Und jeder Fratre möge sich zur Verfügung halten.«
Verzweifelt sah Henry sich in dem Raum um. Er könnte versuchen, unter die Tabellen zu schlüpfen. Die Metalltruhe war offenbar verschlossen. Der Riegel ließ sich nur einen Hauch bewegen. Henry sprang in die nächstliegende Ecke, da wurde auch schon die Tür aufgestoßen und knallte ihm mitten ins Gesicht.
Ein Diener, eher klein und in grauer Uniform, betrat den Raum. Er drückte sich mit dem Rücken an die Wand neben Henry und hielt die Tür auf. Henry schnaufte ihm direkt auf die Schulter. Weiter hinter die Tür schlüpfen konnte er nicht, darum biss er sich auf die Lippen und wartete darauf, entdeckt zu werden.
Darius, in Hut und Umhang, betrat den Raum.
Von seinem Versteck hinter der Tür aus konnte Henry nur die Hälfte seines Gesichts sehen und seine linke Schulter. Am liebsten wäre Henry geschrumpft und in der Wand verschwunden oder in der Uniform des Dieners. Wenn Darius sich umdrehte, wenn er sich nach seinem Diener umsah … Henry dachte den Gedanken nicht zu Ende.
»Was ist denn?«, erklang eine Stimme aus dem Flur.
Darius antwortete nicht. Er trat noch einen Schritt weiter in den Raum hinein, sodass Henry einen besseren Blick auf ihn hatte, und erstarrte. Er drehte sich zur Seite und Henry konnte das hakennasige Profil des Mannes sehen, seinen krausen Backenbart und sein riesiges Kinn. Jetzt nahm er seinen Pilgerhut ab und fuhr sich mit seiner behandschuhten Hand durch sein dichtes Haar.
Henry blinzelte. Ein Flimmern umspielte Darius, sein Gesicht, seine Beine, seine gesamte Gestalt. Henry blinzelte noch einmal. Er spürte, wie seine Augen brannten, und dann sah er.
Darius riss sich seinen Umhang herunter und schleuderte ihn zornig gegen die Wand. Doch er war gar nicht so riesig! Er war zwar sehr groß, hatte aber kaum Fleisch auf den Knochen. Sein Haar war dünn und hing unterhalb einer Glatze in Strähnen herab. Außerdem hatte er abstehende Ohren. Seine Hakennase war lang und reichte sehr weit herunter. Aber darunter befand sich überhaupt kein Kinn. Sein Mund saß einfach über seinem Hals. Und wo ein Kinn hätte sein sollen, befand sich ein großes Stück Knochen oder Elfenbein, das wie ein energisches Kinn geschnitzt und mit einem Band am Hinterkopf befestigt war.
»Los! Weckt ihn auf!«, schrie Darius und ein dicker Mann – die Stimme aus dem Flur – eilte durch den Raum zu dem leblosen Körper.
Während Darius sich bewegte, betrachtete Henry seine Beine. Es waren gar nicht die dicken, muskulösen Dinger, als die Darius sie erscheinen ließ. Sie schlackerten in seinen Stiefeln hin und her und das Gesäß seiner Hose war so gut wie leer.
»Der wacht so schnell nicht mehr auf«, stellte der dicke Mann fest. »Aber der Junge kann nicht allzu weit sein.«
»Er ist nicht irgendein Junge!«, brüllte Darius. »Er ist mein Sohn. Mein Blut fließt in seinen Adern.«
»Noch nicht ganz«, entgegnete der dicke Mann ruhig.
Darius überhörte das. »Sein ehemaliges Blut, die Menschen aus seiner Vergangenheit taten dies. Er konnte sich nicht selbst befreien. Und ich dachte nicht daran, ihn zu retten.« Darius machte einen Schritt zurück, aus Henrys Blickfeld heraus und zur Tür. »Kommt«, sagte er. »Kommt und holt den Sklaven.«
Der Dicke eilte Darius hinterher. »Hebt Seer Harmon vom Boden auf«, sagte er im Hinauslaufen zu dem Diener. »Lasst ihn baden und untersuchen.«
Der uniformierte Diener nickte und ging zu dem inzwischen schnarchenden Mann.
Henry schluckte. Adrenalin schoss durch seine misshandelten Glieder. Er schlich hinter der Tür hervor und schlüpfte in den Flur. Darius’ dürre Gestalt, ohne Hut und Umhang, bog um eine ein Stück voraus liegende Ecke. Der Dicke hastete ihm nach.
Henry legte die Hand auf den Riegel der nächstliegenden Tür und
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