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Fluch der 100 Pforten

Fluch der 100 Pforten

Titel: Fluch der 100 Pforten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Wilson
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die Knie, bis sein Bein nervös zu zittern begann und ihm der Schweiß von der Stirn troff. Seine Zehen fanden schließlich eine ebenfalls ziemlich warme Rohrschelle
und er konnte sich einen Moment ausruhen. Dann angelte er zitternd sein zweites Bein heran und stellte es ebenfalls auf den Wulst.
    Damit war die Sache entschieden. Von hier aus ging es nicht mehr zurück auf das Sims. Es ging nur noch abwärts.
    Henry klammerte sich eng an das Rohr und hielt nach dem nächsten Verbindungsstück Ausschau. Er ging vorsichtig in die Knie und reckte sich ihm entgegen. Dann merkte er, dass er es unmöglich erreichen konnte, und richtete sich wieder auf. Was hatte er da nur angefangen? Das Ding lag eineinhalb Meter unter ihm. Er reichte aber nur einen knappen Meter weit, wenn überhaupt, und auch das nur unter heftiger Adrenalin-Ausschüttung. Nur um sicher sein zu können, versuchte er doch noch mal zurückzuklettern. Aber es war aussichtslos.
    Er hatte keine Wahl. Er musste wohl in Abständen von eineinhalb Metern am Rohr hinabrutschen.
    Bestimmt würde er sterben. In einer Stadt, die so einladend wirkte wie eine Ölraffinerie. In einer Welt, die ihm unsympathisch war. Barfuß. Und den Kopf auf dem Kopfsteinpflaster aufgeschlagen. Vielleicht würde er auch noch auf jemanden stürzen, der richtig nett war, und ihn mit in den Tod reißen. Den einzigen netten Menschen an diesem Ort. Aber wenigstens musste das Mädchen aus der Fabrik es nicht mit ansehen.
    Henry umklammerte das Rohr mit einer Kraft, von der er gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Er hob seine Füße von der Schelle und schlang seine nackten Gelenke um das Metall. Dann rutschte er durch abwechselndes Festklammern und Lockerlassen Zentimeter für Zentimeter abwärts und schabte dabei den Ruß vom Metall. Die Schelle, auf der er gestanden
hatte, bohrte sich in seine Schenkel und dann in den Bauch. Er achtete nicht darauf. Erst als sie ihm in die Rippen drückte, konnte er nicht mehr anders. Er löste seine Arme ein wenig und wollte sich vorsichtig vorbeischieben. Stattdessen aber rutschte er ein beträchtliches Stück abwärts und die Schelle kratzte über seine Brust. Er umklammerte das Rohr wieder aus Leibeskräften und es gelang ihm anzuhalten.
    Er war nicht gestorben. Er atmete erleichtert aus und hätte fast gelächelt. Einen Abschnitt hatte er geschafft. Einen von zwölf. Oder fünfzehn. Oder noch mehr.
    Allmählich wurde ihm das Rohr zu heiß an der Brust. Und seine Beine, die schon wackelig und unsicher gewesen waren, als er aus dem Fenster geklettert war, waren für diese Übung auch nicht so ganz geeignet. Er hätte viel schneller vorwärtskommen müssen. Aber er war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch weiterkonnte.
    Henry biss die Zähne zusammen. Er konnte sich jetzt keine Schwäche leisten. Er konnte jetzt auch nicht über Fehlentscheidungen nachdenken. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Rohr, das er vor sich hatte. Er holte Luft und rutschte wieder ein Stück abwärts.
    Der nächste Abschnitt ging schon schneller. Der dritte war der schnellste überhaupt und Henry schlug sich die Ferse an der Schelle an. Das Rohr dröhnte und erzitterte und Ruß regnete in Henrys Haar.
    Ohne sich Zeit für seine Bedenken zu nehmen oder seine zitternden Glieder zu ordnen, ließ Henry sich weiter hinabgleiten. Und noch ein paar Mal. Bis seine pechschwarzen schmerzenden Füße das Sims auf der ersten Etage erreichten. Er ließ
das Rohr los und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. Seine Arme waren aufgekratzt und blutig – ganz zu schweigen von seinen Fußsohlen. Sein Shirt schien nur noch aus einer Mischung aus Ruß und Schweiß zu bestehen und die flachen Schnitte auf seinem Bauch brannten wie Feuerameisen.
    Im Vorübergehen sahen ein paar Fußgänger zu ihm hinauf, und ein Junge, der auf dem Rücksitz eines vierrädrigen Fahrrads saß, winkte ihm zu. Henry winkte nicht zurück.
    Am liebsten hätte er einfach aufgegeben. Am liebsten hätte er sich auf dem Sims ausgestreckt, den Kopf auf den Rucksack gelegt und geschlafen. Und sich einfach umgedreht, um nie mehr aufzuwachen. Was immer man mit ihm gemacht hatte, als er da auf dem Tisch gefesselt gewesen war – es hatte ihn nicht in die richtige Form versetzt, um an einem Rohr hinunterzurutschen. Wobei er dazu ohnehin noch nie in Form gewesen war.
    Aber irgendwie wurde er auch stur. So sehr er Lust gehabt hätte, einfach aufzuhören – so sehr hasste er diese Vorstellung. Am besten hätte er

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