Fluch der Engel: Roman (German Edition)
wertvoll, um ihn zu verstümmeln«, versuchte er mich zu beruhigen.
Trotz Raffaels mutspendender Worte durchzog mich ein weiteres Frösteln. Racheengel töteten – und von mir wurde erwartet, das eines Tages auch zu tun. Ein gequältes Kratzen jagte gleich noch mal einen eisigen Schauder über mich hinweg. Ich riss mich zusammen. Auf der anderen Seite wurde nur ein Riegel beiseitegeschoben. Dass auch die Tür jämmerlich in ihren Angeln quietschte, war schon beinahe komisch. Zu einem befreienden Lachen reichte es bei mir allerdings nicht. Obwohl ich niemals zuvor hier gewesen war, wusste ich dank Engelsgeschichte schon beim ersten Blick, was mich erwartete: der am strengsten bewachte Bereich des Dogenpalastes. Raffael hatte mich in das Gefängnis für entartete Kreaturen und Engel gebracht.
Mein Racheengelstolz verbot mir, ihn zu fragen, warum Sanctifer ausgerechnet hier mit mir reden wollte. Abgesehen davon gab es sowieso kein Zurück mehr. Die Wachen hielten ihre Lanzen nicht umsonst auf mich gerichtet. Also verbarg ich meine Furcht und spielte wieder die Gelangweilte. Immerhin war ich nicht die einzig Ängstliche. Das Aufblitzen von Panik in den Augen der Wachen, sobald ihr Blick auf meine Hände fiel, verriet sie. Racheengel besaßen tödliche Monsterkrallen. Dass meine noch immer mit kompliziert befestigten Spangen und Silberringen an Daumen und Mittelfinger zurückgehalten wurden, konnten die beiden ja nicht sehen. Ich trug schwarze Pulswärmer, um die Ringe zu verbergen, damit ich auf meinem Weg durch das Engelvenedig nicht erkannt wurde.
Ein paar schmale, von grauen Steinmauern und Gewölbedecken umrahmte Flure und viele Eisengitter später weiteten sich die Gänge, und wir erreichten den großzügig gebauten Teil – den fürWesen mit ausladenden Flügeln. Erneut verdrängte ich Christophers Bild. Mir vorzustellen, wie er in seiner Schattengestalt hier entlanggetrieben wurde, verkraftete mein verliebtes Herz nicht besonders gut. Gequälte Schreie und das Rasseln von Ketten hinter den massiven Kerkertüren spukten dennoch durch meinen Kopf. Alles nur Einbildung, redete ich mir ein – aber vielleicht diente mein Weghören auch nur zum Selbstschutz. Dass Raffael seine Schritte beschleunigte und versuchte, wieder mit mir ins Gespräch zu kommen, war mir eine willkommene Ablenkung.
»Philippe muss ein wahrhaft guter Freund von dir sein, wenn du bereit bist, für ihn zu lügen.«
»Wie kommst du darauf, dass ich für ihn gelogen habe?«
Raffael blieb stehen. In seinem Gesicht stand helles Entsetzen. »Du hast Christopher erzählt, mit wem du dich triffst?!«
Ein Brüllen – das auch ich nicht überhören konnte – ließ ihn zusammenzucken. Hektisch streifte sein Blick den Flur entlang. Selbst mir wurde mulmig, auch wenn dieser Schrei verglichen mit dem eines Schattenengels geradezu harmlos klang. Natürlich spielte ich weiterhin die Taffe, stemmte meine Hände in die Hüften und betrachtete Raffael mit einem spöttischen Blick.
»Du solltest nicht durch Gänge mit Wesen laufen, vor denen du dich fürchtest.« Die Doppeldeutigkeit hatte ich bewusst gewählt. Doch Raffael reagierte gelassen.
»Wenn du scharf darauf wärst, mich zu töten, hättest du mich nicht mit deinen Flügeln vor dem Dämonenstaub geschützt.«
»Was offenbar ein Fehler war.« Kaum ausgesprochen, bereute ich schon, das gesagt zu haben. Raffael das Leben zu retten war richtig. »Es … Raffael, es tut mir leid. Ich … so habe ich das nicht gemeint«, lenkte ich ein.
»Nur zu. Ehrlichkeit ist wertvoll, auch wenn sie nicht immer leicht zu ertragen ist.« Raffaels Miene zeigte keine Regung. Die Bitterkeit in seiner Stimme hörte ich dennoch.
Ich verkniff mir den Kommentar, dass er als Flüsterer im Grunde ein Meister der Lüge und Täuschung war. Vermutlich hätte ich anseiner Stelle auch Sanctifers Angebot akzeptiert. Genauer betrachtet log oder verheimlichte selbst ich eine ganze Menge. Niemand wusste, dass ich mich hier mit Raffael im dunkelsten Teil des Dogenpalastes herumtrieb, anstatt, wie Aron und Christopher glaubten, ein paar Stunden vorzuschlafen, damit ich heute Nacht mit meinem unermüdlichen Engel besser mithalten konnte.
Trotz meiner Entschuldigung wandte Raffael sich von mir ab. Ich hielt ihn zurück und legte meine Hand auf seine Schulter, was er überrascht, aber nicht widerwillig zuließ.
»Wenn du die Wahrheit schätzt, solltest du mal darüber nachdenken, warum dein Ziehvater zugelassen hat, dass der
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