Fluch der Engel: Roman (German Edition)
spüren würde, wie unendlich ich ihn vermisste.
An den Abenden bestand Sanctifer darauf, dass ich zum Essen erschien – und zum Feiern. Ohne die Gaukler, dafür mit mir als Attraktion. Sanctifer selbst beschränkte sich aufs Zusehen, falls er überhaupt anwesend war. Vermutlich wusste er, dass seine Lakaien es auch ohne sein Eingreifen schaffen würden, mich mürbe zu machen. Einen Racheengel zu berühren, ohne von ihm zerfleischt zu werden, schien seinen Gästen den ultimativen Kick zu geben – weshalb sie mich zu ihrem neuen Lieblingsspielzeug erkoren.
Trotzig und mit einem Lächeln auf den Lippen bemühte ich mich, ruhig zu bleiben und mein Messer nur zum Essen zu benutzen, wenn sich wieder einmal fremde Finger in meine Haare verirrten. Oder eine meiner Tischnachbarinnen ganz aus Versehen ihre Hand auf meinen Arm legte und sich zu meinen beringten Fingern vortastete – vermutlich, um herauszufinden, wie sich die Spangen anfühlten, die meine Klauen bändigten. Leider fiel es mir von Tag zu Tag schwerer, mich zusammenzureißen. Zumal die Übergriffe sich schon bald nicht nur auf die Abendstunden beschränkten.
Als Raffael mir anbot, mich bei meinen Erkundungstouren durch den Palast zu begleiten, nahm ich sein Angebot dankbar an. Ablenkung hatte ich dringend nötig. Meine Gedanken wanderten sowieso schon viel zu oft zu Christopher, wenn ich allein war.
Raffael zeigte mir nicht nur die prunkvollen Säle, die ich noch nicht kannte, sondern auch die nicht weniger eindrucksvolle Küche, den Weinkeller und Sanctifers Bootspark. Schwarzpolierte Gondeln tummelten sich dort ebenso wie Sportflitzer und Luxusschiffe. Morgen wollte er mir das Herzstück des Palastes enthüllen: Sanctifers Bibliothek, die Quelle seines Wissens.
Ich fragte nicht nach, wie er seinem Ziehvater die Erlaubnis entlockt hatte, mich in den – zumindest für mich – verbotenen Bereich bringen zu dürfen. Vermutlich hätte Raffael mir das sowieso nicht verraten. Aber vielleicht wollte ich auch nur nicht seine gute Laune verderben – sie wirkte ansteckend und ließ mich für einen kurzen Moment vergessen, dass ich Sanctifers Gefangene war.
Am nächsten Morgen stand jedoch nicht Raffael, sondern Sanctifer vor meiner Tür. Vor Schreck wich ich gefühlte zwei Meter weit zurück – gut, dass es in Wirklichkeit nur ein Schritt war.
Sanctifer spürte meine Anspannung dennoch. Es zauberte ihm ein Lächeln in sein anmutiges Gesicht. Ich ignorierte es und trat beiseite, um ihn einzulassen. Schließlich waren es seine Räume. Doch anstatt einzutreten, befahl er mir mit einem Blick, der klarstellte, dass es keine Alternative gab, ihm zu folgen.
Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend lief ich neben dem Schlächter des Rats durch das Labyrinth seines Palastes. Ich weiß, wie ich meine Engelseele schütze, redete ich mir ein, während ich das Bild des Monsters, das in mir schlummerte, verdrängte. Aron hatte mich bestens vorbereitet.
Sanctifer führte mich in einen mir verbotenen Flügel, wo er auf eine massive, mit Holzornamenten belegte Tür zusteuerte. Zwei Wachen patrouillierten davor. Offenbar gab es hier Dinge, in die nicht jeder Einblick haben sollte.
Das dumpfe Gefühl in meinem Magen wurde heftiger. Die Bilder in meinen Gedanken verwandelten sich. Goldene Folterwerkzeuge tauchten auf. Ich vertrieb sie. Aron hatte vorgesorgt. Was auch immer mich hinter dieser Tür erwartete, dank der Kapsel in meiner Nase würde ich es durchstehen. Mich würde Sanctifer nicht zu einem Schattenengel machen.
Das »Ohh« zu unterdrücken, das mir über die Lippen rutschte, als sich das Meisterwerk der Schnitzkunst vor mir offenbarte, gelang mir allerdings nicht. In dem runden, von einer lichten Kuppel überspannten Raum befand sich die schönste Bibliothek, die ich jemals gesehen hatte. Ein verschlungenes Regalsystem, durchzogen von einer sich bis in die Galerie windenden Treppe, beherbergte eine einzigartige Sammlung von Büchern und Schriftrollen.
Sanctifer gab mir ausreichend Zeit, seine Kunstschätze gebührend zu bewundern. Und obwohl es mich in den Fingern juckte, das ein oder andere Werk zu berühren, ließ ich nur meine Augenüber die Buchreihen wandern. Mein Verstand warnte mich. Was auch immer Sanctifer bezweckte, aus reiner Freundlichkeit hatte er mich nicht hierhergebracht.
»Anstatt dich auf alle Aufgaben vorzubereiten, hat Aron den Schwerpunkt deiner Ausbildung bislang leider viel zu sehr auf körperliche Fertigkeiten gelegt. Doch für
Weitere Kostenlose Bücher