Fluch der Engel: Roman (German Edition)
du die Pergamente studieren kannst, ohne Spuren darauf zu hinterlassen. Und falls du irgendwann deine Meinung ändern solltest, bin ich gerne bereit, dir die Spangen abzunehmen – was übrigens kaum schmerzhaft ist, falls es das ist, was dich daran hindert, sie abzulegen.«
Mir wurde schlecht. Das Funkeln in Sanctifers Augen überzeugte mich vom Gegenteil. Was er als kaum schmerzhaft bezeichnete, konnte ich mir lebhaft vorstellen.
Raffael war stinksauer, als Sanctifer ihn rufen ließ. Vermutlich, weil er mir die Bibliothek zeigen wollte und Sanctifer ihm zuvorgekommen war. Zu meiner Verwunderung hielt Raffael seine Wut nicht zurück. Zornige Blicke und bissige Kommentare produzierte er reihenweise. Dass Sanctifer den Rückzug antrat, nachdem er Raffael als Pergamentrollen-Entfalter eingewiesen hatte, überraschte mich dennoch.
Was, wenn Raffael sich in seiner momentanen Gemütsverfassung auf meine Seite schlug? Wenn er plötzlich mich unterstützte anstatt seinen Ziehvater? Oder war das Ganze nur ein weiteresTheaterstück, um meinen Widerstand zu brechen? Ich beschloss, misstrauisch zu bleiben.
Raffael erwies sich als Quell unendlichen Wissens. Schon nach ein paar Tagen war mir klar, dass seine Kenntnisse über Irrlichter weit über die eines Menschen, der im Dienst eines Engels stand, hinausgingen. Dass Sanctifer ihm Zugang zu diesem Wissen ermöglicht hatte, verwunderte mich ebenso wie die Geduld, mit der Raffael mir beim Begreifen half. Sein Verhalten erinnerte mich an den netten Raffael, den ich auf dem Internat kennengelernt hatte, als ich nicht mehr wusste, dass es Engel gab.
Ich schob den Gedanken, dass ich mich beinahe in ihn verliebt hätte, eilig beiseite. Raffaels Künsten als Flüsterer war ich damals nicht gewachsen gewesen – inzwischen war ich das. Mehr über Engel zu erfahren konnte nicht schaden. Vergessen, auf welcher Seite Raffael stand, würde ich nicht. Darüber konnte mich auch seine aufgesetzte Freundlichkeit nicht hinwegtäuschen.
»Die Wandelbarkeit finde ich das Faszinierendste an Irrlichtern«, wiederholte Raffael, als er bemerkte, dass sich meine Gedanken auf Wanderschaft befanden. »Da sie, wie alle dämonischen Wesen, keine Seele besitzen, ist es schwer vorauszusehen, ob sie zu den Friedfertigen gehören oder nicht.« Der Blick, den Raffael mir dabei zuwarf, irritierte mich – schließlich besaß ich eine Seele. »Die Engel haben mit Hilfe strenger Auswahlkriterien zahme Irrlichter gezüchtet. Die Nixen im Atrium gehören zu ihnen. Und bestimmt hast du auch welche auf dem Canal-Grande-Boulevard gesehen.«
Ich nickte. Die teils skurrilen Ergebnisse kannte ich. Allerdings auch die anderen, die weniger zahmen Irrlichter.
»Und woraus genau werden diese Irrlichter gezüchtet?«, hakte ich nach.
»Das zeige ich dir am besten anhand des Stammbaums.« Raffael legte die Schriftrollen beiseite, mit denen wir gearbeitet hatten, und beendete den Unterricht in der Bibliothek. Er wirkte müdeund blass, als ob er krank wäre. Vielleicht hatte er aber auch nur ein paar Nächte zu viel durchgemacht. Er war ein Mensch und brauchte seinen Schlaf. Mit Engeln mitzuhalten war nicht immer einfach.
Vorbei an weiteren Wachsoldaten schleuste Raffael mich tiefer in den mir verbotenen Bereich. Dieser Teil des Palastes war ebenso märchenhaft, schien aber älter zu sein. Die Flure und Bogengänge waren niedriger und massiver, weshalb alles ein wenig gedrungen wirkte.
Der Saal, in den Raffael mich führte, wurde von einer in ihrem Detailreichtum einzigartigen Wandfreske beherrscht. Unzählige Engel, wie ich sie schon im Dogenpalast gesehen hatte, aber auch andere Wesen waren darauf abgebildet.
»Bevor du ins Detail gehst, solltest du dir zuerst einen Überblick verschaffen«, empfahl Raffael und entzündete ein paar Kerzen, damit ich im Dämmerlicht der untergehenden Sonne die beiden gigantischen Schwingen besser erkennen konnte. Der linke Flügel glich dem eines Engels, der andere dem eines Schattens. Feine Adern verbanden das Ganze zu einer Art Stammbaum: links die Engel, rechts die Monster und zwischen ihnen Wesen ohne Flügel – Menschen vermutlich.
»Das hier ist eines der ältesten Abbilder des Urstammbaums. Auf dieser Seite findest du die Engel.«
Ich trat näher an die Freske. Oben und neben den Putten fand ich ausschließlich Engel mit weißen Flügeln. In der Mitte tummelten sich buntgeflügelte, und unten gab es nur welche mit dunklen Flügeln, so wie Ekin oder Sanctifer sie besaßen.
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