Fluch der Engel: Roman (German Edition)
erforderte meine ganze Konzentration.
Ich ließ mir Zeit, die richtigen Stellen auszuwählen, wo ich meine Hände und Füße setzen konnte. Trotz Pausen rann mir Schweiß den Rücken hinunter – nicht vor Angst, hinunterzufallen, sondern niemals oben anzukommen. Ich schob den Gedanken beiseite. Und auch, dass ich einen Fehler gemacht hatte, weil ich Christopher nicht in Sanctifers Pläne eingeweiht hatte. Angst schwächte.
Verbissen kämpfte ich mich das steile Holzgebälk hinauf. Nach einem Viertel der Strecke zerbröselte eine der Zwischenstreben unter meinen Füßen. Ich verlor den Halt und stürzte in die Tiefe. Meine Flügel drängten hervor. Ich hielt sie zurück. Für eine Drehung war der Boden schon viel zu nah, und mit den Flügeln aufzuschlagen würde schmerzhaft enden. Ein heftiger Stich fuhr dennoch durch meine linke Schulter, als ich mit einer Seitwärtsrolle den Sturz abfing. Gut, dass Engel zäh waren.
Entschlossen, konzentriert zu bleiben, wagte ich einen zweiten Versuch. Erfolglos. Ich blieb hartnäckig. Doch meine Albträumeließen sich nicht vertreiben. Viel zu deutlich sah ich Christopher, wie er in seiner Schattengestalt vor Sanctifer kniete.
Anstatt Christopher aus meinen Gedanken zu streichen und mich auf die Wand einzulassen, dachte ich immer öfter an ihn – und verlor immer früher den Halt. Kurz bevor die Nacht hereinbrach, gönnte ich mir eine Pause. Sinnloses Kräftevergeuden brachte mich nicht nach oben, und einen weiteren Fehlversuch konnte ich mir nicht leisten.
In der Mühle war es eisig. Ich hatte vergessen, Holz nachzulegen. Die Angst um Christopher verstärkte die Kälte. Ich beschloss, das Feuer wieder anzufachen. Die düsteren Gedanken würde es nicht vertreiben, aber wenigstens meinen Körper wärmen und meine vom Festklammern schmerzenden Hände wieder geschmeidig machen.
Zusammengekauert saß ich vor der Feuerstelle und knetete meine steif gefrorenen Finger. Sie waren das Einzige, was mich äußerlich von einem normalen Engel unterschied und was Aron mich nicht trainieren ließ. Mit Klauen wäre es so viel einfacher, Halt zu finden. Mit ihnen könnte ich mich an Stellen festklammern, an denen meine bloßen Hände nutzlos waren.
Vorsichtig versuchte ich, die Silberringe an Daumen und Mittelfingern zu drehen. Sie saßen fest wie angewachsen. Vielleicht waren sie das ja auch. Die transparenten Ringe an den anderen Fingern waren jedenfalls kaum noch zu sehen. Doch um meine Spangen abzulegen, musste ich auch sie loswerden.
Behutsam knetete ich meine Hände, bis die transparenten Ringe sich deutlich abzeichneten. Christopher konnte mir die Spangen ja wieder anlegen. Abgesehen davon, dass es weh tun würde: Was sprach dagegen, wenn ich sie für ein paar Stunden abnahm? Er selbst trug keine Spangen, und auch ich würde sie irgendwann nicht mehr brauchen.
Entschlossen biss ich die Zähne zusammen und ignorierte das ungute Gefühl, erneut etwas Falsches zu tun. Ich hätte Christopher warnen müssen, dass Sanctifer weder mich noch ihn vergessen hatte – oder zumindest Aron.
Meine Klauen stemmten sich gegen ihre Fesseln, als ich den ersten Silberring zur Seite drehte. Der Schmerz, als sich die Spangen aktivierten, trieb mir Tränen in die Augen. Ich machte dennoch weiter, zog und zerrte an den Ringen, die meine Klauen bändigten. Irgendwann würden sie nachgeben. Doch nur der Wille allein reichte nicht. Und hier unten gab es kein Messer, um die Fäden zu durchtrennen, die meine Klauen an die Ringe fesselten. Das lag oben, dort, wo ich hinwollte.
Getrieben von der Sorge um Christopher und grässlichen Wachträumen, näherte ich mich der unbezwungenen Wand. Stein um Stein plante ich meine Route, bevor ich den ersten Schritt wagte. Meine geschundenen Hände würden keinen weiteren Versuch durchhalten.
Tief stieß ich meine Finger in die Spalten des Mauerwerks. Dass Nägel weit weniger effektiv waren als Klauen, interessierte mich nicht länger. Ich musste hier raus, bevor es dunkel wurde. Eine weitere Nacht, ohne zu wissen, dass es Christopher gutging, und ich würde durchdrehen.
Ein paar Meter trennten mich von meinem Ziel. Zitternd hing ich an einem der Dachbalken und zog meinen bleiernen Körper nach oben. Meine aufgeschürften Finger wollten schon lange nicht mehr. Ich grub sie tiefer in den Spalt des Holzsparrens – und vernachlässigte meine Beine. Ein Fuß rutschte ab. Der zweite folgte. Meine Flügel schossen aus meinem Rücken, kurz bevor meine Hände ihren Dienst
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