Fluch der Engel: Roman (German Edition)
löschte alle Kerzen bis auf eine und sorgte dafür, dass die Tür offen blieb, als er den Kerker verließ. Ich wartete, bis ich mir sicher war, dass mein dämonischer Teil sich beruhigt hatte, damit ich die Schutzwälle passieren konnte.
Erschöpft schleppte ich mich in Christophers altes Zimmer. Der Raum wirkte trostlos und leer. Die massiven Mackintosh-Stühle und der Granittisch waren ebenso verschwunden wie das Bett und alle anderen persönlichen Sachen. Nur der mannshohe Kamin mit der verborgenen Tür, durch die ich das Zimmer betrat, war geblieben.
Ich suchte Schutz in einer Ecke. Tränen brannten in meinen Augen, doch ich wollte nicht weinen. Ich wollte stark sein, für Christopher. Nur so konnte ich ihn schützen.
Ein leiser Rest von Christophers Sommergewitterduft schenkte mir Halt, erinnerte mich an andere Zeiten, daran, wie es werden würde, wenn ich meine Schuld bei Sanctifer beglichen hätte. Ein Jahr. Was war das schon für einen Engel? Ein tiefer Seufzer, ein Wimpernschlag, mehr nicht. Danach würde ich frei sein – und bei dem Engel, der mir alles bedeutete.
Eine raue Stimme ließ mich zusammenschrecken. Ich musste eingeschlafen sein.
»Trink den Saft bitte aus, er wird dir guttun.«
Coelestin, der Leiter der Engelschule, stand vor mir und hielt mir ein mit einer orangefarbenen Flüssigkeit gefülltes Glas entgegen. Tiefe Stirnfalten legten sich auf das ohnehin schon gefurchte Gesicht des Schulleiters, als ich ablehnte.
»Ich habe mit Christopher gesprochen. Wenn du möchtest, kannst du mit ihm frühstücken.«
»Er ist hier?!« Im Bruchteil einer Sekunde stand ich auf den Beinen. Mein Schock war echt, der plötzlich einsetzende Schwindel auch. Viel zu schnell verabschiedete sich mein Blut Richtung Beine.
Coelestin musterte mich besorgt. »Nein, nicht hier. Drüben.«
»Und Aron lässt mich einfach so zu Christopher?«
»Ja, das tut er«, bestätigte Coelestin. »Aron ist der Meinung, dass dir eine Pause und ein wenig Abstand guttun würden. Deshalb will er mit dir erst wieder in Italien weiterüben.«
Nach dem Abiball, zu dem auch meine Eltern eingeladen waren, sollte ich mit ihnen nach Hause fahren. Christopher hatte vor, mich zu begleiten – und Aron selbstverständlich auch, um meine Ausbildung in der Einsiedelei fortzusetzen.
»Christopher soll dir in der Mühle Flugunterricht erteilen und dich auf deine letzte Abiturprüfung vorbereiten. Ekin bringt dich zu ihm – falls du möchtest«, schränkte Coelestin ein. Anscheinend wusste er über unseren Streit Bescheid.
Natürlich wollte ich.
Ekin wechselte mit mir in die Menschenwelt. Er begleitete mich bis zu der Stelle, an der die Windmühle hinter den dicht stehenden Bäumen zu sehen war, und verabschiedete sich mit einem unverhohlenen Grinsen. Ich nickte bloß. Mir war alles andere als zum Lachen zumute, wusste ich doch nicht, wie Christopher mich empfangen würde. Vielleicht verbrachte er die Zeit mit mir gar nicht freiwillig. Möglicherweise hatte Coelestin ihn dazu gedrängt – oder Aron. Um mich daran zu erinnern, wofür ich kämpfte.
Ich fror vor Anspannung, als ich auf die Windmühle zulief. Wie würde Christopher reagieren? War er noch immer wütend auf mich?
Ich kam nicht mal zum Anklopfen. Christopher erwartete mich bereits. In seinen Augen spiegelte sich Reue und unendliche Liebe. Ohne ein Wort zu sagen, zog er mich einfach in die Mühle und nahm mich in seine Arme.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er mir ins Ohr. »Und auch wenn es mir unsagbar schwerfällt, ich werde mich daran gewöhnen, weder zu wissen, wo du bist, noch zu spüren, wenn du in Gefahr gerätst«, versprach er, während er seine Flügel ausbreitete und mich behutsam, als wäre ich zerbrechlich wie hauchdünnes Glas, in seine gigantischen Schwingen hüllte und mich lange Zeit einfach nur festhielt.
Alle Fragen, die mir gestellt wurden, hatte ich schon einmal beantwortet. Christophers Vorbereitung für meine mündliche Prüfung war einzigartig. Mein Abi bestanden.
Am Nachmittag half ich Juliane beim Saaldekorieren. Christopher war noch mit seiner Englischprüfung beschäftigt. Außerdem wollte ich mit Raffael reden, ohne dass Christopher Verdacht schöpfte – oder eifersüchtig reagierte. Schließlich wollte ich nicht unvorbereitet sein, falls plötzlich Sanctifer vor mir stand. Wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass Raffaels Ziehvater sich herablassen würde, wegen einer Abifeier die Menschenwelt zu betreten.
Geschickt wich Raffael
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