Fluch der Nacht: Roman
ihrer Stimme. Noch immer fest mit ihrem Geist verbunden, trat er vom Abgrund zurück. Heftige Anspannung erfasste seinen Körper, als sie über den Rand trat und fieberhaft die großen Flügel flattern ließ.
Lass deinen Drachen übernehmen. Er würde ihr ein paar Sekunden geben. Wenn sie dann immer noch nicht loslassen und den Drachen die Führung übernehmen lassen konnte, würde er es für sie tun müssen.
Untersteh dich! Ich kriege das schon hin. Hör auf, mich abzulenken!
Panik beschlich ihn, als das kleine Drachenweibchen immer schneller kreiste und die Kontrolle über seinen Flug verlor. All seine Instinkte schrien ihn an, Laras Bewusstsein zu übernehmen und sie wieder auf Kurs zu bringen, aber noch kämpfte er dagegen an und zwang sich, ihr ein bisschen mehr Zeit zu lassen, während er in der Gestalt des Drachen dicht hinter seiner Gefährtin herflog.
Nicolas stöhnte auf, als er merkte, welch großes Problem Lara damit hatte, die Kontrolle abzugeben. Das hätte er voraussehen und darauf vorbereitet sein müssen. Sie hatte noch ein paar Sekunden, bevor die Illusion, ihrem Drachen die Kontrolle zu übergeben, Realität wurde, da Nicolas dann nämlich keine andere Wahl mehr bleiben würde, als zu übernehmen. Schon ihr diese kostbaren wenigen Sekunden zu gewähren war ein harter Kampf für ihn.
Aber dann holte Lara plötzlich ganz tief Luft und überließ ihrem Drachen die Kontrolle. Sofort hörte das Drachenweibchen mit seinem wilden Flügelschlagen auf, legte sie einen Moment ganz dicht an seinen Körper an und breitete sie wieder aus, um mit einem mächtigen, perfekt abgestimmten Flügelschlag elegant in die Lüfte aufzusteigen.
Ein frohes, kindliches Lachen gellte Nicolas in den Ohren, und eine eiserne Zwinge schien sich beim Klang dieser sorglosen jungen Stimme um sein Herz zu schließen. Lara hatte keine Kindheit gehabt, hatte nie spielen, lachen oder die Frische des Windes in ihrem Gesicht spüren dürfen, nie auf die Baumwipfel und die glitzernden Wiesen herabsehen, am Nachthimmel einen Purzelbaum schlagen und einfach nur ein bisschen Freude haben können. Nun aber ließ pure Euphorie sie singend durch den Himmel schießen, der Wind schlug ihr kühl und spritzig ins Gesicht, und Nicolas konnte die überwältigende Freude in ihr spüren.
Wow, Nicolas! Das ist ... phänomenal!
Ja, das ist es. Lara war phänomenal. Sie bewirkte etwas gänzlich Unerwartetes in ihm; sie kehrte ihn gleichsam von innen nach außen mit dem simplen Glück dieses Moments. In gewisser Weise durchlebte er noch einmal seine eigene erste Erfahrung mit dem Fliegen, aber irgendwie genoss er ihre noch viel mehr. Wahre Freiheit hatte sie noch nie erfahren; dies war ihre erste echte Berührung mit der Schönheit ihrer Welt, und er wollte, dass sie jeden Augenblick davon genoss und die Nacht so sah wie er.
Voller Erstaunen registrierte er, dass er sie für weitaus mehr brauchte als zur Besänftigung seiner Dämonen oder um Licht in seine innere Finsternis zu bringen – er musste auch ihr Lachen hören und das kindliche Entzücken in den funkelnden Augen ihres Drachen sehen. Und er merkte, dass er ihren Mut bewunderte. Sie war aus den Trümmern einer Kindheit voller Grausamkeit und Schrecken wiedererstanden, doch trotz allem hatte sie sich eine Wärme und Hoffnung bewahrt, die er unter den gegebenen Umständen für unmöglich gehalten hätte.
Während er mit ihr über den Nachthimmel flog, kam ihm plötzlich der Gedanke, dass sie womöglich sogar besser war als er, der sich des tief in ihm verwurzelten Ehr-und Pflichtgefühls wegen seinen Schützlingen höchstens überlegen fühlte, während Lara anderen wirkliche Gefühle entgegenbrachte. Sie war aufrichtig besorgt um ihre beiden Freunde und ihre Tanten, und jetzt machte sie sich auch noch Gedanken um den Vater, den sie jahrelang für ein Ungeheuer gehalten hatte. Nicolas konnte sie beschützen, aber was hatte er ihr abgesehen davon noch zu bieten ...?
Er hatte geglaubt, seine Seelengefährtin zu finden, gäbe ihm ein Recht auf sie – dass sie gewissermaßen den Boden unter seinen Füßen küssen würde, ihn bewundern und verehren müsste, aber er hatte nicht bedacht, dass er sein Herz an sie verlieren könnte. Diese Möglichkeit war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, nicht einmal für einen Augenblick. Sie sollte ihr Herz verlieren, doch er würde derselbe bleiben. Aber jetzt veränderte sich alles in ihm, und er war aus dem Gleichgewicht geraten und verwundbar. Er wollte
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