Fluch der Nacht: Roman
auslöste: die Gegenwart eines Vampirs. Und der musste in der Nähe sein. Lara legte schnell ihren Wickelrock und Umhang an, um ihre Waffen darunter zu verbergen. Dann schloss sie die Tür und blickte sich wachsam um, während sie schon mit einer Hand unter ihren dicken Umhang glitt und nach dem Messer an ihrem Gürtel griff.
2. Kapitel
D ie Nacht war bitterkalt. Eigentlich dürfte er das gar nicht spüren, da Karpatianer problemlos ihre Körpertemperatur regulieren konnten, doch Nicolas de la Cruz wollte die Kälte spüren. Weil sie ein Gefühl war. Keine Emotion, das gewiss nicht, aber immerhin etwas. Vielleicht war Kälte wie Verbitterung, und auch Verbitterung war ein Gefühl. Vielleicht war dies die Empfindung, die der am nächsten kam, die ihn vor seinem Tod ergreifen würde.
Mit großen, langsamen Schritten ging Nicolas durch das Dorf. Er hielt das Gesicht von den Menschen abgewandt, die die Bürgersteige mit ihm teilten, um zu verhindern, dass sie seine Augen sahen. Seine dunklen, fast schwarzen Augen, die jetzt wie blutrote Rubine glühten. Eisige Kälte hatte sich in seinem Magen breitgemacht, und tief in seinem Innersten, wo sich seine Seele befinden müsste, war nur noch ein kleines schwarzes Stück geblieben – und auch das war voller Löcher. Die jahrhundertelange Jagd auf Vampire hatte längst ihren Tribut von ihm gefordert.
Er erhob das Gesicht zu den schweren, düsteren Schneewolken, die sich am Himmel türmten. Dies war seine letzte Nacht. Für ihn war der Kampf zu Ende. Er hatte seinem Volk und seiner Familie aufrecht und ehrenhaft gedient, hatte über die Jahrhunderte hinweg treu daran festgehalten und mehr seiner Kameraden, die zu Vampiren geworden waren, getötet als die meisten anderen. Morgen würde er in die Sonne treten und seine lange, freudlose Existenz beenden.
Er war weit entfernt von seinem Zuhause und seinen Brüdern. Der älteste, Zacarias, würde ihn über eine derartige Distanz nicht daran hindern können, ja nicht einmal sein Ende spüren, bis es zu spät war, um ihn aufzuhalten. Nicolas fragte sich, wie lange die Sonne brauchen würde, um ihn reinzuwaschen. Wahrscheinlich sehr lange bei all den Makeln, die seine Seele befleckten, und trotzdem würden seine Brüder die Schwere des Leidens in seinen letzten Minuten nicht miterleben.
Nicolas fröstelte, froh über die Kälte an seinem Gesicht und seiner Haut und dankbar, dass er zumindest körperlich etwas empfinden konnte. Alle anderen Gefühlsregungen wie Trauer, Mitgefühl oder gar Freundschaft und Liebe hatte er schon vor so langer Zeit verloren, dass sie nur noch ferne Erinnerungen waren -vielleicht nicht einmal seine eigenen Erinnerungen. Drei seiner Brüder hatten ihre Seelengefährtinnen gefunden und ihre dadurch wiederentdeckten Gemütsbewegungen mit ihm geteilt. In gewisser Weise machte ihr Glück es noch viel unerträglicher für ihn, noch immer so allein zu sein.
Nicolas hatte sich zu einem letzten Spaziergang durch das Dorf aufgemacht, bevor er sich mit Mikhail Dubrinsky, dem Prinzen des karpatianischen Volkes, traf. Nicolas hatte die weite Reise unternommen, um eine Warnung zu überbringen, aber jetzt war er gar nicht mehr sicher, dass dies ein gefahrloser Ort für eine so persönliche Begegnung war – schon gar nicht in der Nähe des einheimischen Gasthofes. Schon jetzt begann sein Herz schneller zu pochen und ihm sein Bedürfnis nach kräftigendem, heißem Blut zu übermitteln. Scharfe Zähne stießen gegen die Innenseite seines Mundes, in dem sich in Erwartung eines Festschmauses bereits der Speichel sammelte.
Es wäre gar nicht schwer, sich – und wenn auch nur für einen Moment, ein einziges Mal nur – den Rausch von adrenalindurchtränktem Blut zu erlauben, das ihm einen Blick auf lange verlorene Emotionen gestatten würde. Und eine Frau ... Wie gern würde er die zarte Haut einer Frau unter seinen Lippen spüren, ihren Duft einatmen und nur für einen Moment so tun, als hätte er jemanden, der zu ihm gehörte, der ihn mit Liebe – aufrichtiger Liebe – ansehen würde und nicht mit dieser von Gier bestimmten Leidenschaft, die sich immer dann einstellte, wenn eine Frau sich seines materiellen Reichtums bewusst wurde.
Wenn er imstande wäre, Bedauern zu empfinden, dann sicher nicht der unzähligen Male wegen, bei denen er einen alten Freund hatte vernichten müssen, und auch nicht wegen der vielen Seelen, die er befreit und zur letzten Ruhe gebettet hatte, sondern weil er noch nie ein wahres
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