Fluch der Nacht: Roman
Schatten der Kalksteinfelsen fast vollständig verborgen war. Nicolas überprüfte den Spalt Millimeter für Millimeter, konnte jedoch nichts sehen, was eine Öffnung sein könnte.
Aus der Luft war Nicolas das Felsmuster aufgefallen, das mit seiner Eisdecke wie ein stiller blauer See unter dem Gletscher aussah – ein sicheres Zeichen, das weit unten Schmelzwasser Canyons ausgewaschen und große Eishöhlen unter der Oberfläche geschaffen hatte. Daher war Nicolas sich zwar ziemlich sicher, dass sich ein Labyrinth von Kammern unter dem Berg befand, aber einen Weg hinein zu finden war schwierig.
Es ist hier, sagte Lara zuversichtlich . Ganz nahe.
Da sie nun sicher war, dass sie in der richtigen Gegend waren, wusste sie auch, was sie suchen musste. Nein, nicht suchen, sondern »aufspüren«. Wittern. Xavier hatte die Eingänge versiegelt, doch sie waren da, und deshalb wäre es vernünftiger, nicht nach einer Öffnung zu suchen, sondern dem Geruch des Bösen zu folgen. Bei der Suche nach den mutierten Extremophilen im Körper der Frauen war sie so fündig geworden.
Nicht weit entfernt von ihnen traten Rehe auf die Wiese, aber nicht eines von ihnen näherte sich dem frischeren Gras, das ein paar Meter vom Waldrand entfernt wuchs. Neugierig rührte Lara das Bewusstsein der Tiere an. Sie waren sanfte Geschöpfe und normalerweise sehr am Fressen interessiert. Ein paar scharrten im Schnee, um einige kurze Grasstängel freizulegen, doch nicht eines der Tiere sah oder witterte das fette, grüne Gras, das an anderer Stelle durch die Schneedecke nach oben drängte.
Lara schloss die Augen, sog tief die Nachtluft ein und nahm die Informationen in sich auf, die ihr die Umgebung lieferte. Die Nacht war frisch und kalt. Der Schnee hatte aufgehört zu fallen, aber sein Geruch war noch wahrnehmbar und gab der Luft etwas herrlich Frisches ... bis man tiefer einatmete. Dann spürte man einen Hauch von ruchloser, verwerflicher Magie. Lara rümpfte die Nase, als sie sich in die Richtung wandte, wo der Gestank am stärksten war. Sie öffnete die Augen und blickte genau auf das hohe Gras, das aus dem Schnee herausschaute, das hungrige Rotwild aber nicht verlocken konnte.
Schnell trat sie ein paar Schritte näher an die Grasstängel heran, die sich jetzt wiegten, als würden sie vom Wind getrieben – dabei war es nun völlig windstill. Trotzdem nahm die Bewegung des Grases zu, bis es auf und ab wogte wie Wasserpflanzen. Irgendetwas bewegte sich in dem Wald aus Grün, ein verstohlenes Kriechen, das Laras Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann tauchte eine Fledermaus aus dem hohen Gras auf, die ihre Flügel als Beine benutzte, um still und leise auf das grasende Rotwild zuzukriechen. Eine zweite, dritte und vierte Fledermaus erschienen, und dann schien der ganze Boden von ihnen bedeckt zu sein, von einer heimtückischen, dunklen Armee, die ein unachtsames Reh einkreiste und es vom Rest des Rudels abschnitt.
Lara ergriff Nicolas’ Arm, als die Fledermäuse auf den Spitzen ihrer Flügel schwankend vorrückten, um das Netz um das Reh zu schließen. Vampirfledermäuse trinken nur ganz wenig Blut. Sie verhalten sich normalerweise nicht so. Aber es war, als kreisten sie das Reh für andere, finsterere Zwecke ein.
Bevor Nicolas etwas erwidern konnte, stürzten sich die Fledermäuse flügelschlagend auf das Reh, sodass der Kreis nun ganz geschlossen schien. Lara erhielt einen Blick auf Zähne, die nicht wie die einer Fledermaus, sondern mehr wie die eines Haies waren: rasiermesserscharf und in zwei langen Reihen in viel zu großen Mäulern angeordnet. Allein die zahlenmäßige Übermacht zwang das Reh in die Knie und schließlich ganz ins Gras. Blut lief in den Schnee. Die Herde Rotwild wirbelte herum und flüchtete in den Wald zurück.
Die Fledermäuse fielen über das Reh her, das am ganzen Körper zitterte und dessen mitleiderregendes Jammern Lara fast das Herz zerriss. Als sie sich jedoch bewegen wollte, hielt Nicolas sie auf.
Wir können dem armen Tier nicht helfen. Sieh dir doch nur an, was die verdammten Fledermäuse tun!
Sie rissen große Stücke Fleisch aus dem Reh, um an seine Eingeweide heranzukommen, aber während einige noch fraßen, begannen andere schon, den Kadaver mit ihren Zähnen über die Wiese auf das höhere Gras zu ziehen. Sie hinterließen einen breiten Streifen Blut, das einige Fledermäuse aufleckten, ehe sie sich beeilten, beim Wegschaffen des Rehs zu helfen.
Habt ihr so etwas schon mal gesehen?, fragte Lara Nicolas
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