Fluch der Nacht: Roman
langsam wieder zu verblassen.
Steine ächzten und stöhnten, als rieben sie sich aneinander, und Schnee rauschte in einem langen weißen Band vom Berg herab. Die grüne Stelle sank so tief ein, dass Erde, Schnee und Gras buchstäblich in sich zusammenfielen und das tief in die Erde hinabreichende Loch enthüllten.
Nicolas nahm Laras Arm und schob sie hinter sich, bevor er und Vikirnoff sich den Höhleneingang ansahen. Während sie noch hinschauten, entwickelte sich eine dünne Eisschicht, die von den Seiten her das Loch bedeckte, sodass es schien, als blickten sie durch ein Fenster in das dunkle Innere des Lochs hinein. Die Eiswände waren stellenweise mit Schmutz, Gras und einem dunklen Fleck bedeckt, der nur Blut sein konnte. In krassem Gegensatz dazu sah der Rest der Wand so makellos weiß und schön aus wie eine fantastische, aus schimmerndem Glas geschnitzte Eisskulptur.
Lara legte Nicolas von hinten die Arme um die Taille und spähte mit ihm in das Loch, wobei ihr die vielen dunkleren Stellen in den ersten zweihundert Fuß des Stollens auffielen. Die Flecken aus Gras und Blut bildeten einen deutlich erkennbaren Weg zu diesen dunkleren Stellen, die recht solide aussahen, sich bei näherem Hinsehen jedoch als die gleiche dünne Eisschicht entpuppten, die auch das Fenster über dem Eingang bildete.
Lara zeigte mit dem Kinn darauf. »Dort leben die Wächter.«
»Fledermäuse mit großen Zähnen, die aus ihren kleinen Löchern kriechen und sich auf uns stürzen werden, um uns auf dem Weg hinab den Kopf abzunagen«, sagte Natalya. »Na prima! Dieser Stoff eignet sich ja für einen Film.«
Vikirnoff grinste sie an. »Du und deine Filme! Sie hat den denkbar schlechtesten Filmgeschmack.«
Natalya warf ihm eine Kusshand zu. »Allein dafür kannst du als Erster reingehen.«
Lara schüttelte den Kopf. »Nein, lasst mich zuerst die Eisschicht entfernen und einen Zauber wirken, um die Biester festzuhalten. Dann müsste es möglich sein, ohne allzu große Mühe an ihnen vorbeizukommen.« Sie schenkte Nicolas ein schwaches Lächeln. »Und ich hätte gern jemanden dabei, der mich von oben schützt.«
Damit trat sie einen Schritt auf das Loch zu, aber Nicolas ergriff wieder ihren Arm. »Wirke so viele Zauber, wie du willst, doch du wirst diese Höhle nicht allein betreten. Vikirnoff kann als Erster hineinsteigen, um sicherzugehen, dass wir ohne allzu großen Schaden landen, und ich werde als Letzter gehen, um euch von oben zu beschützen.«
Lara legte eine Hand an ihr Herz und grinste Natalya an. »Ich liebe es, wenn er in diesem Ton spricht.«
Natalya verdrehte die Augen. »He-Man und She-Ra.«
Nicolas runzelte die Stirn. »Wer?«
Vikirnoff stöhnte. »Mach bloß nie den Fehler, sie danach zu fragen!« Dann blickte er zum Nachthimmel auf und atmete tief ein. »Die Schutzzauber sind entfernt?«
Lara nickte. »Theoretisch müsstest du geradewegs durch die dünne Eisschicht und den Gang hinunterkommen, ohne die Wächter aufzuscheuchen. Wenn du erst einmal in dem Lavatunnel bist, vermeide bitte, alles zu berühren, was eine Reaktion auslösen könnte.«
»Na toll, vielen Dank!«, sagte Vikirnoff, bevor er sich in Dunst verwandelte und durch das Eisfenster über dem Eingang in die Tiefe glitt.
Natalya folgte ihm sofort.
»Ich werde das Bild für dich festhalten«, versprach Nicolas Lara.
Da sie inzwischen schon einige Erfahrung mit Verwandlung hatte und daher wusste, was sie zu erwarten hatte, erschrak sie nicht über das Gefühl, das sie ergriff, als sie sich in Dunst auflöste. Sie ließ es einfach nur geschehen. Oft hatten Höhlenforscher damit zu kämpfen, dass sich an den Seilen, die sie benutzten, eine dünne Eisschicht bildete. Auch herabfallende Eiszapfen und große Eisstücke, die allein durch das Gewicht der Kletternden aus den Wänden herausbrachen, waren eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Da war es doch erheblich leichter, als bloßer Dunst in eine Höhle hinabzuschweben.
Die Welt unter der Erde, innerhalb der Höhle selbst, war für Lara ein Kosmos von unbekannter und enormer Schönheit. Als sie in die dunkle Gletschermühle hinabglitt, die im Grunde nichts anderes als ein tiefer Stollen war, flüsterte sie einen kurzen Zauberspruch und bat um sanftes Licht an Wänden und Böden, wo immer sie auch hingehen mochten. Sie rief die Spinnen aus ihrer Kindheit, die einzigen Freunde, die sie gehabt hatte, zu Hilfe, um den Weg zu erhellen, und sang leise vor sich hin:
Spinnen, Spinnen aus kristallenem
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