Fluch der Nacht: Roman
fragte er leise und in sanftem Ton.
Lara schluckte den Kloß herunter, der sich plötzlich in ihrer Kehle geformt hatte. Jahrelang hatte sie nicht mehr an ihre Mutter gedacht. Sie hatte sich nicht einmal ein Bild von ihr in Erinnerung rufen können oder auch nur die kleinste Einzelheit wie ihre Haarfarbe oder ihren Duft. Sie hatte nicht mal gewusst, dass sie eine Mutter hatte, bis die Parasiten in Verbindung mit Gregoris silbrigen Augen eine lange vergessene Erinnerung hervorgerufen hatten. »Ja, aber ich habe mich erst jetzt wieder an sie erinnert.«
»Sie war Magierin.« Nicolas versuchte nicht einmal, es wie eine Frage zu formulieren.
Lara runzelte die Stirn. Jetzt, da er es gesagt hatte, erinnerte sie sich auch, gehört zu haben, dass ihre Tanten ihre Mutter als Magierin bezeichnet hatten. Warum war ihr das nicht schon früher eingefallen? Warum hatte sie sich nicht daran erinnert, dass ihre Mutter lockiges Haar gehabt hatte? Lara berührte ihr eigenes Haar. Es war bei ihrer Geburt weißblond gewesen, hatte aber schon in sehr jungen Jahren einen eher rötlichen Farbton angenommen. Sie hatte einen Kopf voller Locken gehabt, dichte, federnde Korkenzieherlocken, die fast nicht zu bändigen gewesen waren. Ihre Mutter hatte genau das gleiche Haar gehabt. »Ja, das war sie. Ich erinnere mich noch schwach, wie ich sie an ihren Locken gezogen habe.«
Übelkeit stieg in ihr auf bei der Erinnerung daran, wie ihre Mutter auf dem Eis gelegen hatte und Schwärme von Parasiten über ihren Leichnam hergefallen waren. Lara presste eine Hand vor den Mund und zitterte so heftig, dass sie näher an den warmen Teich herantrat. Das Rauschen des Wasserfalls beruhigte sie so weit, dass sie ein paarmal tief durchatmen und das Thema wechseln konnte. Sie wollte sich nicht mehr erinnern.
»Du warst lange fort. Was hast du heute Nacht getan?« Als du nicht gerade anderer Leute Gedanken beherrschtest und ihnen ihr Blut nahmst, ohne ihre Einwilligung einzuholen. Der Gedanke drängte sich ungebeten in ihr Bewusstsein, und deshalb blieb sie mit dem Rücken zu Nicolas stehen, damit er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Sie konnte sich nicht einmal auf sich selbst verlassen.
Nicolas war es gewohnt, Gegner zu durchschauen, und im Moment, ob es ihm bewusst war oder nicht, führten sie beide einen Kampf ums Überleben.
»Wir haben heute Abend einen Kriegsrat abgehalten. Die Vampire haben sich gegen uns zusammengeschlossen. Sie versuchen, unsere Spezies zu vernichten. Menschen hätten kaum eine Chance gegen sie. Allein ihnen klarzumachen, dass Vampire existieren, wäre fast unmöglich.«
Laras Herz verkrampfte sich vor Schreck, und trotz ihrer Entschlossenheit, es nicht zu tun, drehte sie sich zu ihm um. »Vampire sind viel zu eitel und egoistisch, um sich zu verbünden. Sie jagen nur dann zu zweit, wenn einer zur Marionette eines anderen geworden ist. Ich weiß, dass das so ist. Meine Tanten haben mir erklärt, was getan werden muss, um Vampire zu töten, falls ich je einem begegnen sollte, und sie haben mir auch gesagt, dass Untote jeden hassen, ihre eigene Spezies mit eingeschlossen. Und dass die karpatianischen Jäger deshalb stets im Vorteil sein werden im Kampf mit ihnen.«
»Ja, so ist es immer gewesen im Laufe der Jahrhunderte«, stimmte Nicolas ihr zu. »Aber heute nicht mehr. Irgendjemand hat einen Weg gefunden, sie zu vereinigen, und uns steht ein langer, bitterer Überlebenskampf bevor.«
Lara fragte nicht, warum er sie nicht ansah, sondern seinen Blick auf das sanft gegen die Felsen plätschernde Wasser im Teich gerichtet hielt. »Xavier?«, fragte sie schaudernd. »Glaubst du, dass er noch am Leben ist? Er war vor zwanzig Jahren schon sehr alt, aber er war auch sehr geschickt darin, sich das nötige karpatianische Blut zu beschaffen, um sein Leben fortzusetzen.«
»Wir glauben, dass er möglicherweise noch lebt und ein Bündnis mit fünf Brüdern geschlossen hat, alle mächtige Karpatianer, von denen wir annehmen, dass sie zu Vampiren geworden sind.«
»Wenn Xavier noch lebt, dann könnten auch meine Tanten noch am Leben sein. Ich muss in diese Höhle.«
Nicolas’ Kopf fuhr hoch, und schwarze Augen begegneten den ihren mit schon fast schmerzhaft intensivem Blick. »Die Höhle ist gefährlich. Dort hineinzugehen wäre äußerst unvernünftig. Wenn deine Tanten noch am Leben wären, wüssten wir es. Sie würden die Fähigkeit besitzen, unsere Leute zu Hilfe zu rufen.«
»Wenn das so wäre«, versetzte Lara
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