Fluch der Nacht: Roman
Trotz der Schmerzen und der absoluten Hoffnungslosigkeit ihrer Lage setzte Lara sich zur Wehr und ließ sich nicht von einem Monster ihres Mutes berauben.
Xavier bekam einen Tobsuchtsanfall. Speichel lief an seinem Kinn hinunter, als er Lara die Kleider vom Leibe riss und dann mit seinen Händen ein kompliziertes Muster in der Luft beschrieb. Wasser strömte von der Decke auf sie herab, sie wurde von den Füßen gerissen und in das Eis zurückgeschleudert. Die Mauer öffnete sich, um sie aufzunehmen, legte sich um ihren Rücken, ihren Po und ihre Beine und ließ ihre Haut am Eis festfrieren.
Erst dann beruhigte sich Xavier. In einiger Entfernung von ihr stellte er Wasser und Essen hin. »Wenn du essen oder trinken willst, wirst du dich von der Wand losreißen müssen. Wenn du es nicht tust, lasse ich dich dort verrotten und schicke meine kleinen Freunde herein, um deinen Kadaver aufzufressen.«
Nicolas sah, wie er hinausschlurfte und das Kind mit seinen unerträglichen Schmerzen, den blutüberströmten Beinen und dem schon halb am Eis festgefrorenen Rücken allein ließ. Er wollte weinen, etwas zerschlagen, Lara in die Arme nehmen, an sein Herz drücken und sie ihr Leben lang beschützen. Und vor allem wollte er Xavier töten.
Wieder verlor die Zeit für Nicolas ihre Bedeutung. Er trieb auf einem See aus Schmerz dahin, bis die Stimmen wiederkamen. Leise. Eindringlich. Ermutigend. Sie sprachen von Hoffnung und flüsterten liebevolle Worte. Stimmen, an denen er sich festhalten konnte, sanfte Stimmen, die ihn vor der völligen Verzweiflung retteten.
Und dann merkte er, dass er wieder einmal mit Laras Geist auf die Oberfläche zustrebte. Ihr Licht war ein bisschen heller, aber sie fühlte sich zerschlagen und mitgenommen – genau wie er. Er versuchte, sich zu beeilen, damit sie nicht noch ein weiteres Ereignis aus ihrer Vergangenheit durchleben musste. Ihm reichte es – er hatte genug gesehen und erlebt. Nie wieder wollte er sich derart hilflos und verletzlich fühlen. Er behütete Lara, umhüllte sie mit Trost und Wärme – und spürte ihr Zaudern, als die Chance zu fliehen näherrückte.
Lara fürchtete sich mehr vor ihm als vor ihrer Vergangenheit! Ihre Kindheit hatte sie bereits durchlebt und überlebt. Er war für sie der Teufel, den sie noch nicht kannte, und in ihrer Beziehung hatte er die ganze Macht.
Ich bin alles, wofür du mich hältst, aber ich kann lernen. Und ich werde lernen, Lara. Ich habe viele Fehler, päläfertiil, von denen der nicht geringste Arroganz ist, aber ich scheue mich nicht, meine Fehler zuzugeben. Komm mit mir, Lara! Komm zurück zu mir und gib mir eine zweite Chance!
Er hatte akzeptiert, dass sie in seiner Obhut war – von dem Moment an, als er zum ersten Mal ihre Stimme gehört und gewusst hatte, dass sie ihn gerettet hatte. Er hatte beschlossen, für sie zu tun, was er konnte, und für die Befriedigung all ihrer Bedürfnisse zu sorgen. Er hatte nicht erwartet, bei ihr auf Widerstand oder Misstrauen zu stoßen, im Grunde war es ihm jedoch egal gewesen; sein Herz war nicht beteiligt gewesen, und er war einfach ohne den kleinsten Zweifel davon ausgegangen, dass er alles so haben konnte, wie er wollte. Er hatte es sogar für sein gutes Recht gehalten. Irgendwo in dieser letzten Nacht war ihm jedoch klar geworden, dass die Dinge sich geändert hatten. Der Stein in seiner Brust begann allmählich, im gleichen Rhythmus wie ihr Herz zu schlagen, und er merkte, dass er fürsorglicher wurde und immer mehr Zärtlichkeit für Lara empfand.
Irgendetwas packte sie, entriss ihm wieder ihren Geist und hielt den Genesungsprozess auf. Nun machte Nicolas sich Sorgen, dass er sie zu spät gefunden und sie sich schon zu weit zurückgezogen hatte oder dass sie tatsächlich ihren Verstand geopfert hatte, um dem Wahnsinn zu entkommen, der sie umgab. Er eilte ihr nach und folgte ihr zu dem Netz, in dem ihr Geist sich in Erinnerungssträngen verheddert hatte, die sich rasend schnell um sie woben, um sie wieder einmal gefangen zu nehmen und ein Entkommen zu verhindern.
Jetzt war sie etwa ein Jahr älter, ihr Haar war heller in dem flackernden Kerzenlicht. Er konnte die ersten Anzeichen des Drachensucher-Erbes in ihrer Haarfarbe sehen, den kupferfarbenen Schimmer in den helleren roten Strähnen. Ihre Augen waren abwechselnd seegrün oder strahlend blau. Sie stand an einer Seite des großen Raumes mit der kathedralenähnlichen Decke, verbarg sich hinter einer Säule und machte sich ganz klein, weil sie
Weitere Kostenlose Bücher