Fluch der Nacht: Roman
Schuldbewusstsein und Furcht vermischten sich in ihrem Blick, als er über Nicolas’ Gesicht zu seinem Haar hinaufglitt, und sie fuhr zusammen wie unter einem Schlag.
Unwillkürlich blickte Nicolas an sich herab. Er war von oben bis unten mit Blut besudelt, von den Peitschenhieben und den Schlägen, und seine Rippen waren angeschlagen von den Tritten. Auch an seinen Handgelenken waren Verletzungen, tiefe Einstiche und klaffende Fleischwunden zu sehen. Lara noch immer in den Armen, griff er sich mit zitternder Hand an den geschorenen Kopf. Sein Haar war fort, nur an vereinzelten Stellen waren noch Spuren davon zu ertasten!
Sein Herz verkrampfte sich, aber dann atmete er tief ein und ließ die Luft ganz langsam wieder entweichen. »Lara, fél ku kuuluaak sívam belsó«, beschwor er sie . Lara, Geliebte, du musst wieder ganz in diese Welt zurückkehren.
Ihr Blick strich weiter über sein Gesicht, und ihre blaugrünen Augen, die feucht von Tränen waren, ließen diese kalte, harte Stelle in ihm, die er nie wirklich zum Funktionieren hatte bringen können, buchstäblich zerschmelzen.
Geliebte? Niemand liebt mich ...
Mit sanften Fingern ergriff er ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Du hast mir meine Seele zurückgegeben, päläfertiil, und nun hast du auch mein Herz wiederhergestellt.« Er legte eine Hand darüber. »Es schlägt wieder, und es schlägt für dich.«
Er war mit frischen Peitschenstriemen übersät, die schon anfingen zu verblassen, doch er musste sehen, was Lara von den Verletzungen aus ihrer Kindheit zurückbehalten hatte. Sie war keine reinblütige Karpatianerin, deshalb bezweifelte er, dass ihre Wunden ebenso gut verheilt waren, wie die seinen bereits heilten. Außerdem war sie jahrelang misshandelt worden. Warum hatte er das nicht längst entdeckt?
Nicolas drehte ihre Hand um, um ihr Handgelenk zu untersuchen. Eine Vielzahl übereinanderliegender Narben von Schnitten, Einstichen und Rissen zog sich wie ein Armband um ihr schmales Handgelenk. Die frischen Risse stammten von ihren eigenen Zähnen, mit denen sie versucht hatte, ihre Vene zu öffnen, um der Düsternis in seiner Seele zu entkommen. Nicolas drehte sich der Magen um bei dem Anblick. Es war das von fortwährendem Missbrauch in ihrer Kindheit vernarbte Gewebe, das ihr das Leben gerettet hatte, aber wie ein in eine Falle geratener Wolf, der sich eher sein eigenes Bein abbeißen würde, als in Gefangenschaft zu bleiben, war auch sie bereit gewesen, diesen Weg zu gehen.
Der Anblick dieser Verletzungen beschämte Nicolas, wie kaum etwas anderes es könnte. Er hatte einen kleinen Teil ihres Lebens mit durchlebt, und es hatte ihn erschüttert und ihn innerlich ganz krank gemacht. Sie jedoch hatte es jahrelang ertragen müssen. Er drückte ihr Handgelenk an seinen Mund, aber sie zuckte zurück, ihr ganzer Körper verkrampfte sich, und als sie leise wimmernd die Augen schloss, konnte er Tränen über ihre Wangen rollen sehen.
Vertrau mir, o jelä sielamak. Licht meiner Seele. »Vertrau mir, Lara«, sagte er mit leiser Stimme, die etwas Beschwörendes hatte, jedoch mit keinem Zwang unterlegt war. Er blies seinen warmen Atem auf das vernarbte Gewebe und senkte seinen Mund darauf, um mit seiner Zunge heilend über die unschönen Hautwülste zu streichen. Mit sanften, beruhigenden Bewegungen ließ er seine Lippen hin und her gleiten und flüsterte eine heilende Beschwörung. Die uralten, in seiner warmen, melodischen Stimme gesprochenen Worte waren sehr schön und angenehm fürs Ohr.
Lara hörte auf, sich zu wehren, doch Nicolas konnte spüren, wie angespannt sie war, als wartete sie nur auf einen Vertrauensbruch. Das Herz tat ihm weh vor Mitgefühl für sie – Mitgefühl für das kleine Kind, dem eine derartige Hilflosigkeit anerzogen worden war, und für die erwachsene Frau, deren Seelengefährte so unachtsam gewesen war, ihr genau das gleiche Gefühl zu vermitteln.
Schließlich drehte er auch ihre andere Hand um und vollzog das gleiche Ritual, ein langsames Einsalben ihrer Haut mit den heilenden Wirkstoffen in seinem Speichel. Dabei behielt er unablässig ihr Gesicht im Auge, um selbst das kleinste Anzeichen von Ablehnung zu sehen. Aber er bemerkte nichts dergleichen. Lara verhielt sich still wie ein wildes Tier in einer Falle, zu verängstigt, um auch nur den Blick zu erheben.
»Ich werde dir nicht wehtun«, versicherte er ihr mit gedämpfter Stimme, um sie nicht noch mehr zu verschrecken, bevor er sie ganz in die Realität
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