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Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Mann, der eine schwere Arbeit beginnen will. Er stand da wie eine Pinie auf einsamer Bergeshöhe.
    Der Telegrafist verdankte seine Fähigkeit, all das so wunderbar zeitnah aufzunehmen und wiederzugeben, nicht der Flinkheit seiner Hände. Das Senden und Empfangen von Botschaften durch elektrischen Strom war eine Hochtechnologie, der sich der menschliche Organismus nur begrenzt anpassen konnte. Niemand vermochte es, mehr als fünfundvierzig, vielleicht fünfzig Zeichen pro Minute zu hören und niederzuschreiben, und auch das nur für kurze Zeit. Die Zukunft gehörte deshalb dem vor vier Jahren erfundenen Drucktelegrafen, der es indes noch nicht bis zur Serienreife und damit zum allgemeinen Gebrauch geschafft hatte. Vorläufig waren es noch Menschen, die die Stromkreise öffneten und schlossen und ihre Signale
interpretierten; in Amerika, der Heimat dieser neuen Art der Kommunikation, waren es meist seltsame junge Männer, die an den überall emporwachsenden Telegrafenleitungen entlang das ganze weite Land durchwanderten, immer den elektrischen Funken nach, die ihre Apparate über dem jüngsten aller Kontinente entfachten.
    Abenteuerlustig, erfinderisch und unstet wie ihre Väter blieben sie selten länger als ein Jahr am gleichen Ort und zogen lachend weiter, wenn wieder einmal herausgekommen war, dass sie »Signal sechs«  – das einmal pro Stunde abzugebende Zeichen, dass ein Telegrafist wach und auf seinem Posten war  – nicht selbst, sondern mithilfe eines an den Telegrafen angeschlossenen Weckers gesendet hatten. So wurden die wandernden Telegrafisten die ersten wahren Erben Daniel Boones; Pioniere und Visionäre gleichzeitig, die das ihnen anvertraute Vermächtnis der Frontier in eine neue Zeit noch unvorstellbarer Geschwindigkeiten und Distanzen trugen.
    Es war, wie gesagt, nicht seine Geschicklichkeit, die J. B. Williams zu seinen Leistungen befähigte, sondern sein außergewöhnliches Gedächtnis. Schneller, als er die Zeichen niederschrieb, prägte er sie seinem Erinnerungsvermögen ein und hatte offenbar ein System entwickelt, mit dem er all das gleichzeitig tun konnte: neue Nachrichten empfangen, etwas ältere behalten, noch etwas ältere aufschreiben. Für die einfachen Leute von Lawrenceville wurde er dadurch zum lebenden Beweis dafür, dass die Telegrafie eine magische Kunst war, elektrische Hexerei, und der Telegrafist ein Zauberer, den man mit offenem Mund bestaunte, ohne ihm wirklich zu vertrauen.
    Seine Vorgesetzten von der Western Union waren jedoch so beeindruckt, dass sie Erkundigungen über den jungen Mann einzogen und ihm trotz erheblicher Bedenken  – wegen eines skandalösen Verhältnisses, das Williams zu einer Negerin unterhielt  – einen Posten im Hauptbüro von Indianapolis anboten. Offenbar war der junge Mann Abolitionist, was man von vielen guten und weniger guten Leuten sagen konnte. Dass er auch ein Coalminer war  – wie man die weißen Liebhaber schwarzer Frauen mit äußerster Verachtung nannte  –, erniedrigte ihn natürlich bis zur Verkommenheit;
aber wenn er seine Gedächtniskunst nur an zwei, vier, fünf andere Telegrafisten vermitteln konnte, ließ sich selbst darüber hinwegsehen. Immerhin hatte irgendein freigeistiger Pfarrer ihm seine schwarze Hure angetraut, und wenn solche Verbindungen auch im weißen Norden selbstverständlich nicht juristisch anerkannt waren, deutete das doch auf einen ausbaufähigen Rest moralischer Integrität hin. In einem ganz geheimen Winkel ihrer Herzen wärmten sich die Herren der Western Union sogar an ihrer jovialen Toleranz und waren enttäuscht, ja pikiert, als Joe Williams zurückkabelte, dass er Illinois nicht verlassen könne. Sie nahmen an, dass eine andere Gesellschaft ihm ein besseres Angebot gemacht hatte.

134.
    Sie hatten schon oft darüber gestritten, Illinois zu verlassen und in eine der großen Städte des Ostens zu gehen. John war dafür, Deborah dagegen, und das hieß, da sie in Illinois lebten: Er war der Angreifer, sie die Verteidigerin. Die verblüffendste Erfahrung, die sie beim Streiten machten, war die, dass sie es am Anfang gar nicht konnten. Sie konnten es so wenig, dass sie beim ersten Mal nicht einmal wussten, dass sie es taten. Nachdem die Argumente ergebnislos hin- und hergegangen waren, nachdem sie ihre Stimmen erhoben und am Ende sogar gleichzeitig geredet hatten, saßen sie einige Sekunden lang ratlos da, verwirrt darüber, dass es nicht das gewohnte Vergnügen machte, die Worte des anderen zu

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