Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
exponieren würden, sobald sie das Haus verließen.
Je früher sie gingen, je länger Deborah in den Straßen, im Hafen
von St. Louis unterwegs war, desto mehr Unvorhersehbares konnte geschehen. Aber je länger sie warteten, desto näher rückte die Ablösung der Polizeiwachen vor ihrer Tür heran und desto weniger Zeit hätten sie, zu entkommen. Es musste zwei Uhr in der Nacht sein, als Gringoire Deborah schließlich zunickte. Die eigentliche Flucht war dann bemerkenswert einfach.
»Hallo!? Oliver? Ollie Madsen!« Mrs. Lafflin, mit Nachthaube und Morgenmantel, war auf die Straße getreten und wandte sich direkt an die inzwischen reichlich verfrorenen Polizisten.
»Was gibt’s da?«, fragte der älteste Sohn und erste Deputy Sheriff Madsens schläfrig. »Oh! Mrs. Lafflin …«
»Hör zu, Ollie«, sagte die alte Dame mit der geradezu mütterlichen Überzeugungskraft, die sie wie selbstverständlich gegenüber einem jungen Mann hatte, der mit ihren Söhnen zur Schule gegangen war und gelegentlich sogar in der Collins Avenue 24 zu Mittag gegessen hatte. »Findest du es nicht lächerlich, wenn ihr hier draußen in der Kälte herumsitzt? In der Halle könnt ihr uns schließlich genauso gut bewachen.«
»Ich weiß nicht recht …«, sagte Oliver Madsen langsam und kratzte sich ebenso verlegen am Kinn wie sein Vater, nur mit dem Unterschied, dass er noch keinen nennenswerten Bart hatte.
»Keine Widerrede«, entschied Emma Lafflin die Sache resolut. »Ihr wärmt euch auf, bekommt einen Kaffee, und wenn ihr danach unbedingt wieder raus in die Kälte wollt, bitte schön!«
Die Deputies folgten diesem forsch-freundlichen Einladungsüberfall der alten Dame wie an der Schnur gezogen, nur der eine, der seinen Revolvergurt abgelegt hatte und ihn mit seinen klammen Händen nicht so schnell wieder an seinen Hüften befestigen konnte, blieb etwas zurück. Aber als Mrs. Lafflin stehen blieb und mit sozusagen trommelnden Fingern demonstrativ auf ihn wartete, beeilte er sich, seine Bereitwilligkeit zumindest mit einer Frage zu signalisieren: »Kann ich vielleicht auch einen Tee bekommen, Madame?«
»Clem McKenna«, sagte sie und schüttelte milde den Kopf, als sie
hinter ihn trat und ihn mit langsamen Schritten zur Haustür trieb. »Immer eine Extrawurst, wie?«
»Ich vertrage doch keinen Kaffee«, murmelte McKenna entschuldigend, als er in die Halle trat – wo seine Kollegen bereits mit erhobenen Händen in die Gewehrläufe schauten, die Gowers und Gringoire auf sie gerichtet hielten.
»Nur keine Aufregung, Gentlemen«, sagte Mrs. Lafflin, nachdem sie mit Mollys Hilfe die jungen Männer entwaffnet hatte. »Hier hinein, bitte!« Sie führte ihre Gefangenen in den Salon, wo Eileen Clairborne den Kaffeetisch bereits gedeckt hatte.
»Kaffee, Milch und Kekse, meine Herren«, sagte die ehemalige Gouverneurin von Louisiana freundlich. »Nehmen Sie Platz, greifen Sie zu!«
»Was zum Teufel …«, sagte Deputy Madsen, als er sah, dass die beiden alten Damen sich bei diesen Worten bewaffneten und die Polizisten nun mit ihren eigenen Revolvern in Schach hielten.
»Oliver!«, erwiderte Emma Lafflin vorwurfsvoll. »Das ist doch wohl kein Grund, um in Gegenwart von Damen zu fluchen?!«
»Entschuldigung«, entfuhr es Madsen spontan, der sich noch immer nicht überwinden konnte, am Tisch Platz zu nehmen.
»Molly, meine Liebe«, sagte die Hausherrin, »wir haben einen Teetrinker hier. Würden Sie …«
»Aber natürlich«, antwortete Molly und ging in die Küche.
»Seien Sie doch vernünftig«, versuchte Deputy Madsen es noch einmal, aber Mrs. Lafflin richtete jetzt den Lauf ihres Revolvers direkt auf ihn.
»Oliver«, sagte sie freundlich, »ich habe in deine Wiege gesehen, und zweifellos wirst du eines Tages in meinen Sarg schauen. Aber wenn du dich jetzt nicht hinsetzt und deinen Kaffee trinkst, schieße ich dir ins Bein!«
»Aber was soll ich denn meinem Vater sagen?!«, entgegnete Oliver kläglich.
»Dass ich dasselbe mit ihm gemacht hätte!« Emma Lafflin spannte den Abzugshahn. Und als alle saßen und auch Deputy McKenna
seinen Tee hatte, begann sie höflich, Konversation zu machen. »Wie geht es Ihrer Mutter, Clem? Was macht die Arthrose?«
Sie hatten sich schon vorher voneinander verabschiedet, so wie Menschen, die wissen, dass sie sich im Leben nicht mehr wiedersehen werden. Emma Lafflin war Deborah behilflich gewesen, einige Kleider ihres Mannes auszusuchen, die ihr in ihrem Zustand noch passten, und hatte
Weitere Kostenlose Bücher