Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Wildnis der ehemaligen Goldfelder, auf nicht mehr als die tägliche Zahlung. Sie hatte sich erschreckend schnell an die Macht gewöhnt, die sie in den Händen hielt, und sie sowohl die Kinder als auch ihren Auftraggeber Blampin bereits mehrmals fühlen lassen. Es war ihre Idee gewesen, Mairie Maguire das lange Haar abzuschneiden,
und sie hatte die Angst genossen, die das zitternde reiche Mädchen unter ihrer Schere empfand.
Auch die Schmerzen und die Scham des kleinen Jonathan taten ihr wohl; ihr Bruder Jamie hatte ihm einige Zehen gebrochen, als der Junge seine Fluchtversuche auch unter Schlägen nicht aufgab. Um ihn nicht mehrmals täglich auf den Topf setzen zu müssen, hatten sie ihm schließlich einfach die Hosen ausgezogen, und so lag der feine Bürgerknabe einen ganzen Tag lang halb nackt, frierend und weinend im eigenen Dreck. Mairie hatte dann die Erlaubnis erbettelt, sich um ihren Bruder kümmern und ihn unter ihre schäbige Decke nehmen zu dürfen, indem sie mit ihrer glockenhellen Stimme für die ganze grölende Bande Kinder- und andere Lieder sang. Wenn es nach Nell ging, konnte diese Entführung noch wochenlang dauern.
Entsprechend ungehalten war sie, als Blampin ihr sagte, dass die Sache zu einem schnellen Ende gebracht werden müsse. Es habe den Schatten einer Verdächtigung gegeben, die Kinder müssten so rasch wie möglich freigelassen werden. Sofort entstand in Nells geschäftstüchtigem Kopf der Gedanke an eine Art amerikanische Versteigerung: Sie nannte Blampin eine Summe, über die der unmöglich allein entscheiden konnte, und beschloss, von den Maguires noch eine entsprechend höhere Forderung einzutreiben.
Gowers, der die jämmerlich übervölkerte kleine Spelunke am äußersten Rand der bewohnbaren Viertel von Melbourne etwa eine Minute vor William Blampin betreten hatte, als er erkannt hatte, welches Ziel dieser ansteuerte, sah nur, dass der Mann, den er bis hierher verfolgt hatte, in ungeheure Aufregung geriet. Blampin verlor derart die Fassung, dass ihm sogar der Satz »Ich werde die Polizei einschalten!« erstaunlich laut entfuhr. Oder besser: Das Wort »Polizei« brachte das geradezu babylonische Gesprächswirrwarr in der Verbrecherkneipe mit einem Schlag zum Verstummen.
Es gibt Gasträumlichkeiten, in denen man das Wort »Polizei«
bedenkenlos aussprechen kann, und es gibt solche, in denen man seine Verwendung eher meiden sollte. William Blampin merkte nun deutlich, dass Hays Tavern ein Lokal der zweiten Kategorie war. Er konnte von Glück sagen, dass die geistesgegenwärtige Nell in Gelächter ausbrach, denn seine Entgleisung als gelungenen Scherz darzustellen war unter diesen Umständen das Einzige, was sein Leben möglicherweise retten würde. Dennoch blieb die Atmosphäre gespannt und unangenehm leise, als er sich nur Sekunden später erhob, seinen Sinneswandel durch die hier nicht unbekannte Abschiedsformel »Ich werde das Geld beschaffen!« kundtat und nach draußen wollte.
Man verstellte ihm den Weg, ein Mann nahm ihm den Hut vom Kopf: »Den brauchst du dazu ja nicht.« Ein zweiter meinte offenbar, dass auch Blampins Jacke nicht vonnöten sei, um das Geld beizubringen, äußerte das aber nicht, sondern zog sie ihm ganz einfach aus. Ein dritter fand Gefallen an seinen Stiefeln. Die Hosen anzubehalten war das Einzige, dessen er sich rühmen konnte, und auch das lag vorwiegend an der erstaunlichen Geschwindigkeit, mit der er jetzt den Ort der Handlung verließ. Nell lachte immer noch.
»Geht der wirklich zur Schmiere?«, wurde sie in unterschiedlichen Formulierungen gefragt.
»Der wird sich hüten«, antwortete sie ernst und bestellte sich ein weiteres Glas Gin, um ihre Aussage durch Ruhe und Gelassenheit zu untermauern.
Es fiel dem Investigator schwer, Blampin unbeaufsichtigt ziehen zu lassen und seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die unbekannte junge Frau zu richten, die den Mann so sehr in Rage gebracht hatte. Vor allem seine anfänglichen Überlegungen über das Geschlecht des Entführers gaben ihm jedoch die Sicherheit und die Geduld, bis kurz vor Mitternacht darauf zu warten, dass Nell Fagan das Lokal verließ.
Obwohl sie betrunkener war, als er glaubte, blieb sie auf ihrem Weg in die Tiefen der Geisterstadt immer wieder stehen und
drehte sich um, um zu sehen, ob jemand ihr nachkam. Glücklicherweise hatte sie aber nicht Gowers’ Augen, der sie nun am äußersten Rand seiner Nachtsichtigkeit verfolgte. Nach fast einstündigem Fußmarsch durch die Weiten des großen
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