Fluch von Scarborough Fair
gekommen. Und zum ersten Mal hatte sie nicht bloß dagesessen, Lucy angestarrt und leise ihre Version von » Scarborough Fair« vor sich hin gesungen.
» Du bist zu hübsch!«, hatte Miranda ihr heute zugerufen. » Ich wünschte, du wärst hässlich! Hässlich! Erwarte nicht zu viel vom Leben!« Miranda hatte mit verzerrtem Gesicht am Zaun gelehnt und Lucy fünf Minuten lang lauthals mit Worten bombardiert. Dazu hatte sie seltsam mit den Händen gefuchtelt, als wollte sie Lucy verfluchen. » Erwarte nicht zu viel! Erwarte nicht zu viel!«
Es war so furchtbar peinlich gewesen, obwohl die anderen Mädchen nur das Gesicht verzogen und Miranda ignorierten. Anscheinend glaubten sie, Lucy sei zufällig zur Zielscheibe dieser Belästigungen geworden. Selbst Sarah kannte die Wahrheit nicht.
Hübsch? Hässlich? Alles, was Lucys Gesicht im Spiegel verriet, waren Sorge und– Wut.
Wut auf Miranda, weil sie Lucys Leben selbst dann noch verkomplizierte, wenn sie nicht da war. Ja, und ehrlich gesagt, auch Wut auf Soledad, irrationale Wut, weil sie sich nur auf den Ball konzentrierte und dabei völlig übersah, dass gerade jetzt noch etwas anderes in Lucys Leben passierte. Denn obwohl Lucy einerseits nicht über Mirandas Rückkehr sprechen wollte, dachte sie andererseits unsinnigerweise, dass ihre Mutter etwas ahnen müsste.
Lucy ließ die Schultern hängen. Sie griff nach hinten, um den Reißverschluss des Kleides zu öffnen, und wünschte für einen kurzen Moment, sie hätte die Hilfe Soledads oder der Verkäuferin nicht abgelehnt. Aber auf dieser Shoppingtour, die Soledads Idee gewesen war, brauchte sie einfach eine gewisse Privatsphäre. Einen Ort, an dem sie den eigenen Gedanken nachhängen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass ihr Gesicht etwas verriet.
Was, wenn Miranda in dem Hotel auftauchte, wo am Wochenende der Abschlussball stattfand? Wenn sie dort wieder zu singen begann, oder schlimmer noch, wenn sie Lucy wieder etwas zurief? Schlimm genug, dass es heute in Gegenwart der Mannschaft und des Trainers passiert war. Aber wenigstens hatten sie es ignoriert. Niemand hatte wegen Miranda die Polizei gerufen.
Lucy streckte den Zeigefinger aus und berührte ganz sachte die Nase des Mädchens im Spiegel. Halt durch, flüsterte sie lautlos. Weine nicht. Lass sie in dem Glauben, dass du glücklich bist. Einfach ein Mädchen, das auf einen Ball geht. Sie brauchen das. Sei ganz ruhig. Du kannst sowieso nichts tun. Es ist weiß Gott schon alles versucht worden. Und am Wochenende kommt Zach und du kannst mit ihm sprechen.
Das Mädchen im Spiegel nickte ernst und entschlossen.
Kapitel 6
Bereits zwei Tage nach Padraig Seeleys Arbeitsbeginn waren alle auf der Geburtshilfestation des Brigham and Women’s Hospital begeistert, dass jemand in der Personalabteilung die Intelligenz, den Weitblick und die Kreativität besessen hatte, den neuen Sozialarbeiter einzustellen. Keiner konnte genau sagen warum, da er noch nicht lange genug da war, um schon etwas geleistet zu haben. Eigentlich wussten weder Hebammen noch Ärzte noch Assistenten oder Hilfskräfte, wie die Arbeit von Padraig Seeley aussehen sollte. Aber es spielte keine Rolle. Was es auch war, es war bestimmt außergewöhnlich, weil Padraig Seeley selbst außergewöhnlich war.
Auch Soledad mochte ihn. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen. Auch sie glaubte, er könnte von großer Hilfe sein, und für diese Annahme gab es mehr Gründe als nur seinen besonderen Charme und seine Ausstrahlung. Gestern hatte sie ihn zu einem benachbarten Gesundheitszentrum in Dorchester mitgenommen, wo sie einen Kurs über Allgemeinmedizin und Ernährung in der Schwangerschaft für junge Mädchen leitete.
Vorher hatte sie sich gefragt, ob die Mädchen seine Anwesenheit wohl akzeptieren würden. Die meisten gerieten leicht in Verlegenheit, wenn sie in Gegenwart von Männern, auch wenn es sich dabei um Ärzte handelte, über weibliche Physiologie und die Besonderheiten einer Schwangerschaft sprechen sollten.
Aber Padraigs Charme oder sein Aussehen oder beides zusammen hatte die Mädchen verzaubert. Sie war nicht sicher, wie es passiert war. Soledad hatte nur gesagt, er sei ein Kollege, der dem Kurs beiwohnen wollte. Padraig hatte etwas abseits von dem Kreis, den die Mädchen gebildet hatten, still auf einem Stuhl gesessen. Er war sehr zurückhaltend gewesen, hatte aufmerksam beobachtet und nur wenig gesprochen, aber Soledad hatte bemerkt, wie die Mädchen zu ihm hinschielten. Sie hatten sich
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