Fluch von Scarborough Fair
die Achseln und verzog seltsam den Mund, als bemühte sie sich vergeblich um ein beruhigendes Lächeln. Dann wanderte ihr Blick wieder zu Miranda. Lucy war sich nicht sicher, wie lange es dauern würde, bis die anderen, mit Ausnahme von Zach, die Anwesenheit ihrer leiblichen Mutter bemerkten. Vielleicht wären es ein paar Minuten oder auch nur eine einzige. Währenddessen hatte Lucy jedenfalls das Gefühl, ganz allein mit Miranda zu sein, die in ihren abgewetzten Klamotten neben dem großen Haus hockte, in dem ihre Tochter ohne sie lebte.
Sie ist also gekommen, dachte Lucy. Fast war sie froh darüber, so als sei Miranda, wie Mrs Angelakis und die anderen Nachbarn, nur da, um Lucy in ihrem hübschen Kleid zu bewundern und ihr viel Spaß beim Ball zu wünschen.
Aber Miranda sah Lucy nicht einmal an, und Lucy war für einen kurzen Augenblick wie erstarrt und verzweifelt.
Dann stockte Soledad der Atem und sie sagte nur ein einziges Wort: » Miranda.« Und sie tat, was Lucy nie konnte. Sie lief mit ausgestreckten Armen auf Lucys Mutter zu und umarmte sie. » Miranda!«, rief Soledad unter Tränen. » Oh, mein Schatz, du bist gekommen, lass mich dir helfen, Gott sei Dank bist du okay–«
Wie ein Aal wand sich Miranda aus Soledads Umarmung. Soledad streckte wieder die Arme aus, aber Miranda drehte sich rasch um und stieß ihr den Ellbogen ins Gesicht. Soledad schrie vor Erstaunen und Schmerz auf. Blut schoss aus ihrer Nase. Und im selben Moment griff Miranda in ihren Einkaufswagen, packte zwei Flaschen auf einmal und warf sie mit aller Wucht auf die Gruppe von Leuten, die immer noch auf dem Gehweg stand.
Krach! Klirr! Flaschen flogen wild durch die Luft. Eine Glasflasche zersprang zu Lucys Füßen in tausend Scherben. Im nächsten Augenblick spürte sie, wie Zach sie packte und hinter sich herzerrte.
Eine Plastikflasche prallte gegen Padraig Seeleys Brust, gefolgt von einer Glasflasche, welche er erstaunlicherweise mitten in der Luft auffing. Für einen kurzen Moment glaubte Lucy, ihn lächeln zu sehen. Unterdessen flog eine weitere Glasflasche knapp einen Zentimeter an Gray Spencers Kopf vorbei und krachte gegen die Beifahrertür des MINI Cooper.
Gray schrie auf.
Unterdessen rief Leo Zach und Lucy etwas zu, aber Lucy verstand kein Wort, weil Miranda im selben Moment eine wüste Schimpfkanonade losließ.
Zach zerrte Lucy mit sich, aber sie wehrte sich und versuchte sich loszureißen, um Soledad zu helfen. Sie sah, dass ihr weiterhin Blut aus der Nase lief und dass sie sich vergeblich bemühte, Mirandas Arme von hinten festzuhalten. » Mom!«, rief Lucy.
Eine weitere Flasche ging dicht neben Lucy zu Bruch.
» Miranda, hör auf!«, schrie Leo. » Lucy könnte verletzt werden!«
Und im Hintergrund schrie Mrs Angelakis: » Die schon wieder! Diesmal rufe ich die Polizei!«
» Lucy, duck dich!« Zach umklammerte Lucys Handgelenk und zerdrückte dabei ihr Blumenarmband. » Kriech zum Haus! Sofort!« Als sie seinen Befehl nicht befolgte, stellte er ihr ein Bein und drückte sie zu Boden. Vor Empörung stutzte sie einen Moment, aber dann kroch sie grimmig in die Richtung, in die Zach sie zerrte. Lucy merkte kaum, dass sie schluchzte und dabei nach Luft schnappte.
Wieder zerbarst eine Glasflasche direkt vor Lucy auf der Eingangstreppe des Hauses.
Fast gleichzeitig vernahm Lucy das Quietschen von Autoreifen. Sie drehte sich um und sah, wie Gray Spencer in seinem MINI Cooper das Weite suchte.
Dann griff Leo ein. Später wurde Lucy klar, dass zwischen dem ersten Flaschenwurf und Leos Reaktion nur Sekunden vergangen waren, aber in diesem Moment kam es Lucy wie eine Ewigkeit vor.
Leo rannte über den Rasen direkt auf Miranda und Soledad zu. Eine Glasflasche traf ihn an der Schulter, aber er lief weiter. Und schon im nächsten Moment schnappte sich Leo nicht etwa Miranda oder Soledad, sondern den inzwischen halb leeren Einkaufswagen und rannte damit über die Straße in Mrs Angelakis’ Vorgarten.
Es folgte eine fast beängstigende Stille, die allerdings nur wenige Sekunden dauerte, denn in der Ferne ertönte jetzt ein Heulton, der immer lauter wurde. Polizeisirenen, realisierte Lucy. Sie spürte Zachs Hände, die ihre Arme umklammert hielten, und hörte, wie er auf sie einredete. Ihr war klar, dass er sie immer noch zu überreden versuchte, ins Haus zu gehen.
Aber Lucy wollte nicht. Sie stand auf. Die zerdrückte Blume baumelte von dem Armband an ihrem Handgelenk. Sie drehte sich zum Vorgarten um, wo nur noch Padraig
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