Fluch von Scarborough Fair
Seeley ganz ruhig inmitten von Plastik und Glassplittern stand. Lucy schaute an ihm vorbei.
Zwei Polizeiwagen hielten am Straßenrand. Das laute Heulen der Sirenen verebbte zu einem Piepton.
» Du kannst mich jetzt loslassen, Zach«, sagte Lucy.
» Aber–«
» Ich bin okay. Lass los.« Lucy sah Zach nicht an. Ihr Blick ruhte jetzt auf Soledad und Miranda. Soledad hatte offenbar einen Schock, aber Miranda stand immer noch an derselben Stelle und schwang lebhaft die Arme wie beim Nordic Walking.
Lucy spürte, wie Zachs Griff sich lockerte, und dann ließ er los. Sie lief über den Rasen zu ihrer Mutter. Zu ihren beiden Müttern. Als Lucy auf sie zuging, sah Miranda ihr direkt ins Gesicht, und für einen kurzen Moment hätte Lucy schwören können, dass ein gewisser Glanz in ihren Augen lag.
Fast unbewusst war sie vor Miranda stehen geblieben. Und sie ahnte nicht, dass sie mit ihr sprechen würde– bis sie es tatsächlich tat.
» Wenn du diesmal verschwindest, Miranda, dann komm nicht wieder. Ich brauche dich nicht. Wir brauchen dich nicht.«
Miranda starrte sie ungerührt an.
Lucy wandte sich ab und legte den Arm um Soledad. » Komm ins Haus, Mom. Die Polizei soll den Rest erledigen.«
Aber nun war sie es, die ignoriert wurde. Soledad war ganz auf Miranda fixiert. » Miranda, meine Liebe, Lucy hat es nicht so gemeint. Natürlich wollen wir dich hierhaben.« Sie streckte ihre blutige Hand aus. » Du kannst bei uns bleiben. Komm rein.«
Lucys Herz pochte wie wild.
Miranda wies Soledads Hand zurück. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und beobachtete, wie die Polizisten mit Leo und Mrs Angelakis sprachen. Dann nahm ein Polizist die Handschellen von seinem Gürtel und ging zu ihr. Sie wollten sie mitnehmen. Der Polizeibeamte legte ihr ganz behutsam die Handschellen an. Miranda half nicht mit, aber sie wehrte sich auch nicht.
» Wir werden keine Anzeige erstatten«, erklärte Soledad den Polizisten. » Es ist nicht ihre Schuld. Wir kennen sie. Sie ist psychisch krank. Ihr Name ist Miranda Scarborough. Sie gehört sozusagen zur Familie. Sie sollte bei uns bleiben, es sei denn–«
» Sie können sie später besuchen«, unterbrach sie der Polizist. » In der Zwischenzeit werden wir sie an einen sicheren Ort bringen, wo sie ärztlich behandelt wird.«
Soledad protestierte. » Sie wird in keiner psychiatrischen Einrichtung bleiben. Wir haben es schon mal versucht. Leo–« Leo hatte sich endlich von Mrs Angelakis losgeeist und war seiner Frau zu Hilfe geeilt. » Leo, sag es ihnen.«
» Wir regeln das später«, meinte Leo. » Die Polizei soll sie jetzt erst mal mitnehmen, Soledad.«
» Wir können Sie ins Krankenhaus bringen, Ma’am«, fügte der Polizist hinzu. » In dem zweiten Wagen. Damit sich jemand Ihre Nase anschaut.«
» Oh, nein. Ich bin Krankenschwester. Ich weiß, was zu tun ist.«
Lucy und Zach meldeten sich beide gleichzeitig zu Wort. » Das ist keine schlechte Idee–«
» Mom, wenigstens–«
Aber plötzlich sprach Miranda, die Hände vor dem Bauch gefesselt, zum ersten Mal: » Wahre Liebe«, sagte sie klar und deutlich. » Glaubst du etwa daran? Ich nicht. Es ist eine Falle.«
Alle sahen sie an.
» Was haben Sie gesagt, Ma’am?«, fragte der Polizist.
Miranda lächelte sonderbar. Sie betrachtete Lucys Kleid, das voller Grasflecken und Blut war. Die zerdrückte rosa Kamelie an Lucys Handgelenk. Und schließlich Lucys robuste rote Sneakers, mit denen man angeblich jemanden in den Arsch treten konnte.
» Eine Falle«, wiederholte Miranda. Dann sang sie. » Sonst wird sie seine wahre Liebe sein.«
Ihre Stimme versagte, und nun sprach sie wieder anstatt zu singen. » Pass auf. Ich hab immer wieder versucht, es dir zu sagen. Achte auf das Lied. Jetzt bist du an der Reihe. Du wurdest gewarnt. Ich soll dich warnen. Du kannst versuchen zu entkommen. Du musst es sogar versuchen. Keine von uns hat es bisher geschafft. Wird es dir gelingen?«
Die Polizisten führten sie jetzt ab, und sie sang dabei immer wieder dieselben Worte.
Sonst wird sie seine wahre Liebe sein.
Als sich die Tür des Streifenwagens hinter ihr schloss, lachte sie. Aber es war ein seltsames Lachen, das ebenso gut ein Weinen hätte sein können.
Kapitel 10
» Tja«, sagte Lucy leise zu Zach, nachdem Leo Soledad dazu überredet hatte, sich mit einem Eisbeutel auf der blutigen Nase aufs Sofa zu legen. » So viel zum Abschlussball.«
» Macht es dir was aus?«, fragte Zach, und dann hatte er plötzlich eine Idee.
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