Fluch von Scarborough Fair
hatte.
Leo sah ihr an, dass sie es wusste. Er kam zurück, nahm sie behutsam in die Arme und küsste sie auf die Stirn. Zuvor hatte Soledad nicht wirklich gewusst, was Angst bedeutete, sondern nur geglaubt, es zu wissen.
Ganz instinktiv legte Soledad ihre Arme um Leo, und nun hielten sich beide fest umschlungen.
» Setz dich, mein Schatz, und fang an zu lesen«, sagte Leo. Es klang wie ein Befehl, aber das störte Soledad nicht.
» Ja, das werde ich«, erwiderte sie. » Fahr vorsichtig«, lautete im Gegenzug ihr Befehl.
» Ja.«
Es dauerte noch eine Weile, ehe sie sich voneinander lösten.
Dann setzte sich Soledad hin und begann zu lesen. Sie machte keine Pause, sondern sog die Informationen in sich auf. Sie versuchte, nicht zu reagieren, sondern nur aufzunehmen, und blieb manchmal nur deshalb ruhig, weil sie wusste, dass Lucy oben in Sicherheit war. Nach Eindreiviertelstunden legte sie das Tagebuch auf den Couchtisch. Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss die Augen. Eine schon fast verblasste Erinnerung schnürte ihr die Kehle zu.
Miranda sitzt hochschwanger auf dem Sofa und sieht Soledad beim Stricken zu. Sie stellt eine Frage nach der anderen, und Soledad beantwortet sie.
Ja, es gibt auch Kleidungsstücke ohne Nähte. Zum Beispiel der Pullover, den ich gerade stricke. Dafür verwendet man Rundstricknadeln. Oh, und Fäustlinge werden ebenfalls rund gestrickt.
Stimmt, man braucht dazu Nadeln.
Ob man etwas ohne Nadeln machen kann? Oh, ja. Man kann einen Stoff weben; man muss nicht unbedingt stricken. Baumwolle, Seide, Leinen– alles gewebte Stoffe. Dafür braucht man einen Webstuhl.
Ich weiß, was du fragen willst. Ja, zur Herstellung des Stoffs braucht man keine Nadeln, aber wenn man Kleidung daraus machen will, wie zum Beispiel ein Hemd, dann muss man die Teile aus dem Stoff ausschneiden und sie zusammennähen. Mit einer Nadel natürlich. Eigentlich mit der Nähmaschine. Ja, die hat auch eine Nadel. Ich kann es dir bei meiner zeigen.
Nun, lass mich überlegen. Kleidungsstücke ohne Nähte. Besteht ein Sari nicht nur aus einer Stoffbahn, die um die Frau herumdrapiert wird? Das wäre ein Beispiel. Oder, hey, eine Toga! Oder ein Poncho. Du musst nur ein Loch in den Stoff schneiden und den Kopf durchstecken.
Ein Hemd? Oh, nein. Ein Hemd muss Nähte haben.
Ich wusste gar nicht, dass du dich fürs Stricken interessierst, Miranda. Ich bringe es dir gerne bei. Oder auch das Nähen, wenn du willst. Wir können ein paar Sachen für das Baby machen. Es macht dir bestimmt Spaß. Ich liebe es. Es ist so entspannend, etwas mit den Händen zu machen. Man fühlt sich so– Miranda? Miranda, was ist los? Oh, mein Schatz. Ich rede und rede über meine Hobbys, dabei geht es dir so schlecht…
Kapitel 31
Zu Beginn des Familienrats herrschte langes Schweigen, und Lucy wurde mit nervösen Seitenblicken bedacht.
Aber Lucy wirkte seltsam ruhig, während alle anderen (außer Pierre) ziemlich neben der Spur waren. Als Pierre seinen leeren Fressnapf zu Leo hinschob, stieß dieser ihn ungewöhnlich barsch mit dem Fuß an seinen Platz zurück. Soledad spielte mit ihren Haaren und wickelte sie sich um den Finger. Und kurz vor dem Treffen hatte Zach sich bei seiner abendlichen Rasur so ungeschickt angestellt, dass er sich dreimal geschnitten hatte.
Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Lucy, als sie in die Küche kam. Sie trug ein kurzes weißes Tanktop und Bermudashorts. Den obersten Knopf der Shorts musste sie offen lassen, weil sie sonst zu eng waren. Es war nicht zu übersehen, dass sie schwanger war und dies jetzt auch zur Schau stellte, was sie vorher noch nie getan hatte. Soledad warf einen Blick auf Lucys Kleidung– auf den offenen Knopf–, sagte aber nichts, sodass Lucy nicht erklären musste, warum sie sich so angezogen hatte. In Soledad schien sich alles nur um den einen Gedanken zu drehen: wie vor achtzehn Jahren bei ihrer Mutter.
Meine Tochter. Meine Tochter. Meine Tochter.
Leo hatte Rührei mit Tomaten und Schnittlauch zubereitet. Aber Lucy war die Einzige, die sich darüber hermachte. Sie aß nicht nur ihre Portion, sondern auch noch die Hälfte von Zachs. Dazu trank sie Magermilch und aß zusätzliche Tomatenscheiben. Zach, Leo und Soledad sahen ihr dabei staunend zu.
Als Lucy fertig gegessen hatte, sah sie auf. » Mein Baby muss gefüttert werden«, sagte sie leise, » ob ich Lust habe oder nicht. Wisst ihr, es ist merkwürdig. Einerseits weiß ich, wir haben eine Menge zu besprechen, und ich
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