Fluch von Scarborough Fair
was meinst du? Du konntest doch nichts damit anfangen. Meine Mom ist also auf fantasievolle Art verrückt.« Lucy beobachtete Zach genau. » Miranda ist ganz anders als ich, würde Mrs Foster sagen. Aber ihre Geschichte besitzt eine eigene Logik. Das muss man doch anerkennen, oder?«
» Ja«, erwiderte Zach. » Du denkst also, dass sie geisteskrank ist und dass wir alles verbrennen und vergessen sollten?«
Es herrschte Schweigen. Schließlich holte Lucy tief Luft. Vielleicht hielt Zach jetzt auch sie für verrückt.
Lucy beugte sich vor. » Nein. Ich hab dir schon mal von dem Abend mit Gray erzählt. Es war nicht Gray, der mich vergewaltigt hat. Ich weiß, das hört sich genauso verrückt an wie Mirandas Geschichte. Aber er war es nicht. Da steckte jemand anderer in seinem Körper. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Der Geist eines anderen. Jemand… jemand, der sich amüsierte, Zach. Und dieser Jemand sagte Dinge, die Gray niemals gesagt hätte, und er benutzte eine Sprache, die ich noch nie gehört hatte.«
Zach schwieg. Er musste wieder an die Stelle im Tagebuch denken, an der Miranda den Abend schilderte, an dem Lucy gezeugt wurde, und wie der Mann, den sie den Elfenritter nannte, sie manipuliert hatte.
Er sei böse, hatte Miranda geschrieben, und er habe gelacht.
» Du glaubst doch nicht im Ernst…« Zach verstummte.
Lucy verschränkte die Arme vor dem Bauch. Dann hob sie die Seiten auf, blätterte sie durch und deutete auf eine Stelle.
Deine Ahnin Fenella.
» Fenella ist ein ungewöhnlicher Name, Zach. Aber an jenem Abend hat Gray– oder wer auch immer– ihn ausgesprochen.«
» Bist du sicher?«
» Ja«, sagte Lucy bestimmt. » Und jetzt zeige ich alles Soledad und Leo.«
» Na, dann los«, meinte Zach.
Kapitel 30
Soledad las Mirandas Tagebuch, den Brief und die herausgerissenen Seiten erst nach Leo. Sie ließ ihrem Mann den Vortritt, weil sie Angst hatte. Bis jetzt hatte sie sich noch nie davor gefürchtet, etwas zu erfahren. » Die Information ist unser Freund«, hatte sie oft erklärt. » Wissen verbessert alle Chancen.«
Bevor Lucy und Zach ihr und Leo das Tagebuch und die zusätzlichen Seiten überreicht hatten– bevor sie die Angst in ihren Augen gesehen hatte–, war Soledad ganz erpicht darauf gewesen, es zu lesen. Obwohl sie sich nie dazu hätte hinreißen lassen, Lucy in irgendeiner Weise zu drängen, hatte sie das Tagebuch haben wollen, seit sie von dessen Existenz wusste. Sie hatte sich danach gesehnt es zu lesen, als ob das Miranda zurückbringen könnte.
Soledad hatte wiederholt von Miranda und dem Tagebuch geträumt, und in jedem dieser Träume hatte Miranda mit Soledad im Wohnzimmer auf dem Sofa gesessen. Sie saßen einander gegenüber, und Miranda las Soledad aus ihrem Tagebuch vor. Gelegentlich sah sie von dem Buch auf, um bestimmte Dinge zu erklären. Die Miranda aus dem Traum war die Miranda von heute; sie sah mager und erschöpft aus, und ihr Gesicht und ihre Hände trugen deutliche Spuren ihres erbärmlichen Lebens. Aber sie hatte zu ihrem alten Ich zurückgefunden; ihr Verhalten verriet eine gewisse Reife und Klugheit, und sie konnte sogar wieder lachen. Miranda wohnte wieder bei ihnen, sie wollte sich ein neues Leben aufbauen und gehörte zur Familie. Jedes Mal erwachte Soledad voller Freude aus diesem Traum.
Einmal jedoch war aus dem Traum eine Art Albtraum geworden. Mirandas Mund war beim Vorlesen immer größer geworden, und ihre Worte fegten wie ein heftiger Wind durchs Zimmer. Der Wind erfasste nach und nach alle Habseligkeiten der Markowitz’ und schleuderte sie zu Boden. Und als der Wind sich in einen Tornado verwandelte, sprang die Miranda aus dem Traum auf und schrie– nicht vor Zorn, sondern vor lauter Qual.
Soledad dachte an den Traum, als ihr Mann ihr das Tagebuch und die übrigen Seiten hinhielt. Sie griff nicht sofort danach. Stattdessen sah sie Leo prüfend an und bemerkte die tiefen Falten auf seiner Stirn und zu beiden Seiten des Mundes.
» Sobald du das gelesen hast, halten wir einen Familienrat ab«, sagte Leo.
Er hielt immer noch das Tagebuch in der Hand. Schließlich nahm Soledad es ihm ab, obwohl sie plötzlich den Drang verspürte, es möglichst weit von sich zu schleudern.
» Ich hab noch was zu erledigen«, fuhr Leo fort. » In einer Stunde bin ich wieder da.« Er wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne und schaute über die Schulter zu Soledad zurück. Als ihre Blicke sich trafen, bemerkte Soledad, dass ihr Mann geweint
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