Fluch von Scarborough Fair
besten. Es hieß, es sei neu, und die Kaufoption läge bei neunzig Dollar. Es war wohl besser, nicht nachzufragen, warum es noch neu und so billig war, huh?«
Ups. Carrie war zusammengezuckt. Sie und Lucy hatten noch nie denselben Sinn für Humor gehabt. Lucy fuhr rasch fort. » Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich mir ein elfenbeinfarbenes Kleid anstatt eines weißen Kleids ausgesucht habe. Für einen Moment hab ich mir sogar überlegt, ein rotes Kleid anzuziehen.« Sie hörte auf zu reden, weil ihr bewusst wurde, dass sie sich erneut der Gefahr aussetzte, sich unbeliebt zu machen. Vielleicht war sie doch nervöser, als sie gedacht hatte.
Dann sah sie Soledad im Spiegel und ihre Blicke trafen sich. Es war so etwas wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Das letzte Mal, dass Lucy im Beisein von Soledad ein langes Kleid anprobiert, vor einem Spiegel posiert und mit ihr über ungewöhnliche Accessoires diskutiert hatte, war vor dem Abschlussball gewesen.
Das war jetzt genau zwanzig Wochen her.
Lucy biss sich auf die Lippe. Sie fragte sich, ob Soledad auch daran dachte, was sie nicht hoffte.
» Ich bin froh, dass du dich heute für etwas Traditionelles entschieden hast«, meinte Soledad nur.
Carrie nickte heftig.
Sarah brachte den Spitzenschleier. » Halt den Kopf still«, sagte sie und blies ihren Atem in Lucys Nacken, wo sich der Verschluss der von Soledad geliehenen Perlenkette befand. » Beug ihn nach vorn.«
» Beides gleichzeitig? Sarah, denk an die physikalischen Gesetze–«
» Du könntest die Physikprüfung glatt ohne meine Nachhilfe bestehen. Und jetzt tu einfach, was ich sage.«
Lucy beugte sich leicht nach vorn. Sarah platzierte den Schleier auf Lucys Kopf und steckte ihn mit drei Ebenholzkämmen in ihrem Haar fest. Sie drapierte ihn über Lucys Schultern und Rücken, und dann trat sie ein paar Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. Der Schleier umrahmte Lucys Gesicht und reichte ihr im Rücken fast bis zu den Kniekehlen.
Die Frauen betrachteten Lucy. Sogar Pierre hob geduldig seinen Kopf vom Teppich, sodass das mit blauen Bändern geschmückte Halsband sichtbar wurde. Soledad streckte die Hand aus, als wollte sie Lucy berühren, ließ es dann aber sein.
» Na bitte«, flüsterte Sarah und blinzelte. Und dann setzte sie ein breites Grinsen auf. » Ganz wunderbar.«
Auch Carrie musste die Tränen zurückhalten. Der Schleier war der » alte« Gegenstand. Er war Carries Brautschleier gewesen, ein Familienerbstück aus fester Spitze aus den 1930 er-Jahren. Früher war er mal weiß gewesen, aber mit den Jahren hatte er einen leichten Gelbstich bekommen. Wider Erwarten passte er gerade deshalb so gut zu dem elfenbeinfarbenen Empire-Kleid, das Lucy so billig erstanden hatte. Lucys dunkles Haar glänzte unter dem Schleier, und ihr Blick war seltsam tiefgründig und durchdringend.
Von unten drang die Musik des Streichquartetts herauf, das sich aus Leos Freunden zusammensetzte.
» Es wird Zeit«, sagte Sarah. » Lucy, bist du bereit?«
Lucy nickte. Sie war immer noch ruhig, nur vielleicht ein wenig außer Atem. » Ich brauche noch die Blumen.« Sie sollte drei langstielige weiße Rosen in der Hand tragen, deren Dornen man sorgsam entfernt hatte und die mit einem blauen Band zusammengebunden waren, das farblich zu den Bändern an Pierres Halsband passte.
» Wir sehen uns dann unten«, sagte Carrie und verließ eilig das Zimmer.
Auf einmal stand Leo in der Tür, in seinem abgetragenen Smoking, den er seit vielen Jahren bei Auftritten an Silvester trug.
» Hey, Dad«,sagte Lucy.
Leo starrte sie wortlos an, und dann streckte er die Arme aus. Lucy stürzte auf ihn zu und umarmte ihn, und Leo drückte sie ganz fest an sich. Erst nach einer ganzen Weile ließ er sie wieder los. » Na gut.« Er trat von einem Fuß auf den anderen und neigte den Kopf in die Richtung, aus der die Musik kam. » Joey hat seine Lesebrille vergessen«, flüsterte er. » Deshalb klingt die Bratsche vielleicht nicht so, wie sie sollte. Tut mir leid.«
» Jazzmusiker spielen Vivaldi, wer hätte das gedacht. Es gefällt mir«, flüsterte Lucy zurück.
Soledad unterbrach sie. » Wir müssen uns aufstellen«, sagte sie angespannt und mit leiser Stimme. » Sarah? Bereit?«
Sarah sah Lucy an. » Bereit?«
Lucy blickte in drei Augenpaare, die auf sie gerichtet waren. Nein, vier. Für einen Moment bildete sie sich ein, sie hätte Miranda gesehen– eine gespenstische Erscheinung. Sie wünschte, dass ihre Mutter an ihrem
Weitere Kostenlose Bücher