Fluch von Scarborough Fair
erhaschte im Spiegel einen Blick von Sarah. Sarah wirkte bemerkenswert frisch für jemanden, der bis kurz nach zwei Uhr morgens aufgeblieben war und geredet hatte. Und für Lucy galt dasselbe. Beide grinsten sich an. Genieße den Augenblick, hatte Sarah letzte Nacht gesagt. Konzentriere dich auf das, was gerade passiert.
Das war genau die richtige Einstellung an ihrem Hochzeitstag. Interessant, wie schnell sich ihre Stimmung geändert hatte. Sie fühlte sich einfach großartig. Sie war ruhig und ekstatisch zugleich. Vielleicht lag das an dem langen Gespräch mit Sarah letzte Nacht, oder an den stummen, liebevollen Blicken, die sie mit Zach getauscht hatte, als sie ihm morgens um sechs barfuß und im Pyjama in der Küche begegnet war. Vielleicht war es aber auch nur das unbedachte menschliche Verlangen, sich in das Unvermeidliche zu stürzen. Ihre Zweifel waren jedenfalls verflogen, aus welchen Gründen auch immer. Sie heiratete heute, genauer gesagt in einer halben Stunde.
Das Baby in ihrem Bauch bewegte sich. Die anderen Frauen bemerkten, wie Lucy die Hand auf ihren Bauch legte. Sie hatten ausgemacht, dass sie alle blaue Kleider trugen, wobei Stoffe und Schnitte keine Rolle spielten.
» Alles okay?«, erkundigte sich Soledad.
» Ja«, erwiderte Lucy. » Alles bestens.«
» Lucys Kleid ist perfekt«, sagte Zachs Mutter Carrie zu Sarah. Carrie hatte die ganze letzte Stunde im Schlafzimmer gequasselt und sich dabei andauernd wiederholt. » Ich war so besorgt, als Lucy mir erzählte, dass sie etwas bei eBay gefunden hätte. Die Bilder dieses großen Tages sind doch schließlich was Bleibendes. Und ein guter Schnitt macht ungeheuer viel aus bei, äh, Figurproblemen.« Sie warf einen kurzen Blick auf Lucys Bauch, wandte sich dann aber schnell wieder ab. » Aber bei dieser Empire-Taille ist das ja gar keine Frage. Und Elfenbein war die richtige Wahl bei Lucys Teint. Diese herrliche Seide. Prächtig.« Sie strich über die zarte Spitze auf Lucys Schulter. » Nun, ein wadenlanges Kleid wäre für eine Hochzeit am Nachmittag vorteilhafter gewesen, aber vermutlich war nicht mehr genug Zeit, um es zu kürzen. Ein Saum hätte das Kleid sowieso ruiniert.« Sie lächelte Lucy an.
Carrie gab sich redlich Mühe, und Lucy wusste das zu schätzen. Sie lächelte zurück, denn schließlich würde die Frau sehr bald schon ihre Schwiegermutter sein. » Danke.«
Ein Vorteil war, dass sie sich schon so lange kannten. Wenn Carrie Lucy betrachtete, dann sah sie in ihr nicht nur einen schwangeren Teenager, der selbstsüchtig die Zukunft ihres Sohnes ruinierte, sondern sie sah auch das kleine Mädchen vor sich, dem sie das Haar zu Zöpfen geflochten, alte Klamotten zum Verkleiden geschenkt und mit zwölf einen langen Vortrag darüber gehalten hatte, wie wichtig es für Mädchen war, entschieden ihre Meinung zu äußern und nicht zu still und schüchtern zu sein. Aufgrund dieser gemeinsamen Vergangenheit waren sie jetzt in der Lage, einander trotz ihrer unterschiedlichen Interessen zu akzeptieren. Für den Fall, dass Lucy nicht den Verstand verlor und Zach mit dem Baby allein lassen musste, könnte sich vielleicht sogar binnen zwei oder drei Jahren– oder möglicherweise noch viel früher, dank des beruhigenden Zaubers, der normalerweise von Babys ausgeht– die Kluft zwischen ihnen überbrücken lassen.
Aber das würde wahrscheinlich nie passieren. Zach hatte seinen Eltern die ganze Geschichte erzählt, aber sie hatten sie nicht geglaubt. Es waren deutliche Worte gefallen, und sie hatten Lucy unterstellt, ein falsches Spiel zu spielen und Zach auszunutzen. Trotzdem hatten sich die Greenfields dazu durchgerungen, am Hochzeitstag nett und höflich zu sein. Vor allen Dingen aber waren sie da. Carrie war sogar nach oben gekommen, um Lucy zu helfen. Sie lobte Lucys Kleid in den höchsten Tönen und lieh ihr sogar ihren Schleier. Und in Kürze würde sie mit ihrem Mann im Wohnzimmer neben ihrem Sohn stehen, während dieser sein Eheversprechen gab.
Es war wahrlich eine Heldentat, die Großmut und Tapferkeit erforderte. Lucy wünschte, sie könnte ihren Schwiegereltern in den kommenden Jahren angemessen dafür danken. Aber alles, was sie im Moment tun konnte, war, Carries Geplapper freundlich zu erwidern und ihr dabei zu helfen, den Tag zu überstehen.
» Die Macht der Suchmaschine«, sagte Lucy zu Carrie. » Ich hab nur Umstands-Hochzeitskleid, Größe S eingegeben, und schon hatte ich zwei Kleider zur Auswahl. Dieses hier gefiel mir am
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