Flucht aus dem Harem
Unersättlichkeit aufzunehmen.
Leila stand auf und legte sich aufs Bett. Sie hatte besser geschlafen als erwartet. Aber vielleicht war auch nur die Erschöpfung der überstandenen Flucht schuld daran. Ihr Blick wanderte zur Decke und von dort über die Wände der Kabine. Wie lange würde sie wohl hier gefangen sein? Ein paar Wochen bestimmt. Wie sollte sie sich die Zeit vertreiben? Essen und Sex, Sex und Essen. Darauf schien es hinauszulaufen.
Sie konnte diese Eintönigkeit nur durchbrechen, wenn sie anfing, mit ihm zu reden. Unwillkürlich blickte sie auf seinen nackten Rücken. Die Muskeln in der Schulterpartie zeichneten sich ebenso deutlich ab wie die Wirbelsäule. Wie war er in all den Jahren der Gefangenschaft nur zu so einem athletischen Körper gekommen? Wie war er überhaupt in Gefangenschaft geraten? Und wenn das Gerücht mit dem Lösegeld stimmte – warum hatte dann niemand dieses Lösegeld für ihn bezahlt?
Themen für Gespräche gab es genug, wenn sie bereit war, ihre Distanz aufzugeben. Alles, was sie über ihn erfuhr, würde sie ihm ein Stück näher bringen, darüber machte sie sich keinen Illusionen. Schon jetzt fühlte sie sich von ihm angezogen, ob sie wollte oder nicht. Im Harem hatten die Frauen manchmal darüber gesprochen, wenn es darum ging, dass der Pascha sie verheiraten wollte. Dann waren sie die möglichen Kandidaten durchgegangen, hatten die Vorzüge des einen und die Nachteile des anderen besprochen. Hatten darüber debattiert, ob das Schicksal ihnen wohl einen anziehenden Mann zugedacht hatte. Einen Mann, der nicht nur für sie sorgen würde, sondern dem sie auch ihr Herz schenken konnten. Und der dieses Geschenk zu würdigen wusste.
Leila hatte sich niemals in Träume dieser Art verstricken lassen, sie hätte es gefährlich gefunden, einen Mann so nahe an sich heranzulassen, dass er mehr verlangen könnte als ihren Körper. Allerdings war sie auch noch niemals einem Mann begegnet, der sie auf die eine oder andere Art in seinen Bann gezogen hatte. Selbst in der Anfangszeit mit dem Pascha, die noch nicht von Gleichgültigkeit und Ekel bestimmt gewesen war, hatte sie ihren Gebieter bestenfalls als Werkzeug empfunden, das ihrem hungrigen Körper Befriedigung verschaffte. Aber unter die Haut gegangen war ihr weder der Mann noch die Beziehung zu ihm.
Trotzdem musste sie sich damit abfinden, dass Justin sie anzog. Da war zum einen die Tatsache, dass sie die erste Frau für ihn war. Das rührte sie auf eine Weise an, die sie nicht erklären konnte. Seine Jugend, sein atemberaubender Körper und die unverfälschte Lust, die er empfand und sich nicht scheute, zu zeigen. Und dann zum anderen die Art, wie er sie ansah – als wäre sie etwas unvorstellbar Kostbares, das man sanft und vorsichtig berühren musste, um es nicht zu zerbrechen.
Leila unterdrückte ein bitteres Auflachen. Wenn er wüsste, dass sie alles andere als kostbar war, und dass man sie schon vor langer Zeit zerbrochen hatte.
Aber in dieser Hinsicht bestand keine Gefahr. Für ihn war sie das Geschöpf, von dem er jahrelang geträumt hatte, die Realität dahinter sah er nicht. Was spielte es also für eine Rolle, wenn sie der unerklärlichen Anziehungskraft nachgab und nicht länger versuchte, krampfhaft eine Distanz zu schaffen? Es würde die Reise, ja, das ganze Zusammenleben mit ihm wesentlich einfacher machen. Justin würde immer nur sehen, was er sehen wollte, aber nicht, was wirklich war. Und sie konnte das Ganze als Ausflug in eine Zwischenwelt betrachten, als ein Intermezzo zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben, das für ihre Zukunft keinerlei Konsequenzen hatte, wenn sie es richtig anstellte. Sobald sie in London ankamen, würde sie gehen und ihn niemals wiedersehen. Und alles, was zwischen ihnen passiert war, wäre nichts weiter als ein schöner Traum.
Justin schob den leeren Teller von sich und drehte sich zu ihr um. Sein Blick glitt über ihre nackten Beine. Sie spürte es so deutlich, als wäre es eine Liebkosung.
„Du bist schön.“ Eine sachliche Feststellung, keine Frage, kein Kompliment.
„Du auch“, erwiderte sie im gleichen Tonfall.
Er lachte ungläubig. „Ich bin ein Mann.“
„Das bist du. Und du bist schön.“ Sie strich ihr Haar hinters Ohr. Dabei fiel ihr ein, dass sie weder Kamm noch Bürste besaß. Bei ihrer Flucht hatte sie nur ihre Schmuckstücke in den schwarzen Mantel eingenäht, aber sonst nichts mitgenommen.
„Gibt es hier einen Kamm?“, fragte sie ohne große Hoffnung, aber Justin
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