Flucht aus dem Harem
Justin wieder die Kabine betrat, lag Leila noch immer im Bett. Sie hatte sich unter der dünnen Decke zusammengerollt und die Hand unter ihre Wange geschoben. Versunken in ihren Anblick blieb er neben dem Bett stehen. Auf ihren Wangen lag ein rosiger Hauch und die feingezeichneten Augenbrauen zogen sich wie Tuschestriche über ihre makellose Haut. Ihre Nase war gerade, das Kinn rund und der Mund voll. Im Schlaf wirkte sie entspannt und er erinnerte sich wehmütig an das kleine Lächeln, das sie ihm heute Morgen geschenkt hatte. Das sollte sie viel öfter tun. Was mochte geschehen sein, dass sie ihr Lachen verloren hatte und in ihren Augen Kälte statt Fröhlichkeit lag? Was hatte sie so hart gemacht? War ihre Gefangenschaft so viel schlimmer gewesen als seine?
Seine Vorstellungen vom Leben im Harem resultierten hauptsächlich aus schwülen Träumen und vagen Ahnungen von Nacktheit und zügellosen Ausschweifungen, die er aufgrund seiner mangelnden Erfahrung nicht näher beschreiben konnte. Aber das Lachen, das aus dem Garten zu ihm gedrungen war, konnte doch nur bedeuten, dass die Frauen Spaß hatten. Und sie durften sich in den Gebäuden des Harems frei bewegen, sogar Besuch empfangen. Fahrenden Händlern aus allen Himmelsrichtungen war es gestattet, ihre Waren in einem eigens zu diesem Zweck vorgesehen Saal zum Kauf feilzubieten. Der Pascha bezahlte für alles, seien es nun Kleider, Schmuck oder Naschereien. Bei großen Festen wurden die Frauen als Gäste und Zuschauer in den Palast geladen. Diese Informationen hatte er Daoud Aga im Lauf der Zeit entlockt.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete und nahm das Tablett mit den zwei Tellern, den leicht angeschlagenen Porzellanbechern und der kupfernen Kanne entgegen. Während er alles auf den Tisch stellte, setzte sich Leila auf und gähnte herzhaft.
„Ich rieche Kaffee“, sagte sie. „Der Smutje sei gepriesen. Und der Kapitän und wer immer noch dafür verantwortlich ist.“
Er goss einen Becher voll, um ihn ihr zu bringen, aber als er sich umdrehte, stand sie neben ihm. Ihr zerzaustes Haar, der verrutschte Ausschnitt des Hemds und nicht zuletzt die nackten Beine ließen seinen Mund trocken werden.
Sie streckte unbekümmert ihre Hand aus und nahm die Tasse entgegen. Ihre Blicke schweiften zu der kleinen Zuckerschüssel. „Ich mag ihn süß.“
Gehorsam löffelte er Zucker in die Tasse und setzte sich dann auf den Stuhl. Der Duft von gebratenem Speck ließ seinen Magen knurren. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er war.
Leila hatte sich auf dem Hocker neben ihm niedergelassen. Sie nahm nur zwei Bissen Rührei und eine Scheibe Toast, dann schob sie den Teller beiseite. „An diese Art der Mahlzeit so früh am Morgen muss ich mich erst gewöhnen.“
„Das ist ein typisch englisches Frühstück“, erklärte er, und erst als er die Worte ausgesprochen hatte, fiel ihm auf, wie selbstverständlich er diese Tatsachen hinnahm. Dabei war es so lange her, dass er ein englisches Frühstück gegessen hatte.
Das Frühstück im Palast hatte aus verschiedenen Kuchen und in Zuckersirup getauchten Gebäckstücken bestanden, aus süßer Reissuppe oder Taubenbrüstchen in Gelee.
Das hier war ein weiterer Schritt in sein neues Leben, etwas, das ihm klar machte, wie sehr die Dinge im Begriff standen, sich zu ändern.
„Ich dachte, Haferbrei ist ein typisch englisches Frühstück“, erwiderte sie und füllte ihre Tasse erneut.
„Auch, aber im Zweifelsfall bevorzuge ich Speck und Eier.“
„Du kannst meine haben.“ Sie schob den Teller zu ihm hinüber und er sträubte sich nicht, sondern machte sich hungrig darüber her.
Sie fressen wie Schweine und sie paaren sich wie Schweine. Der Satz tauchte ohne Vorwarnung in Leilas Kopf auf. Tatsächlich schaufelte Justin den fetten Speck und die labbrigen Eier in sich hinein, als hätte er tagelang gehungert. Fett rann aus seinem Mundwinkel, und er wischte es mit dem Handrücken ab.
Schaudernd wandte sich Leila ab. Ihr Blick fiel auf ihre restlichen Kleidungsstücke. Sie fragte sich, ob sie sich anziehen sollte, oder ob er gleich dort anknüpfen wollte, wo sie aufgehört hatten. Ihre unverblümten Worte hatten vermutlich seine Eitelkeit verletzt, aber mit Sicherheit würde er sich weiteren Lektionen ebenso hingebungsvoll widmen wie dieser Mahlzeit. Sie seufzte. Auf jeden Fall musste sie vorher das Schwämmchen entfernen und durch ein neues ersetzen. Die Frage war nur, ob genug Zitronen an Bord waren, um es mit seiner
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