Flucht aus dem Harem
Es war purer, unverhohlener Hass.“ Sie atmete tief durch. „Und das Schlimmste ist, dass er mit allem, was er gesagt hat, recht hatte.“
19
Noch nie hatte Justin es so sehr bedauert, nüchtern zu sein, wie in diesem Moment. Wenn er betrunken gewesen wäre, hätte er mit den drei Männern eine Schlägerei angefangen, die er zweifellos verloren hätte. Und dann hätte er sich besser gefühlt.
Wie hatte er nur sagen können, was er gesagt hatte? Es gab keine Entschuldigung dafür. Weder der Schock, Leila so unverhofft wiederzusehen, noch die Verwirrung, einer ganz anderen Frau gegenüberzustehen, als er erwartet hatte, rechtfertigten seine Worte.
Auch nicht der Tumult aus Wut, Zorn, Freude, Erleichterung, Leidenschaft und Begehren, der in ihm getobt hatte, taugte als Entschuldigung. Nicht einen Augenblick lang hatte er geglaubt, sich geirrt zu haben. Er würde Leila überall und in jeder Verkleidung erkennen. Sein Herz schrie nach ihr, und sein Körper verzehrte sich jede Nacht nach ihrem.
Wie hatte sie ihn nur so dreist verleugnen können? Wie konnte sie glauben, dass er sie damit davonkommen lassen würde? Und wieso überhaupt dieses absurde Schauspiel?
Nachdem ihm vor Überraschung das Glas aus der Hand gefallen war, hatte er sich geistesgegenwärtig nach den Namen der beiden Frauen erkundigt. Lady Dexter und ihre Gesellschafterin Lady Dowbridge, beides Witwen aus Cornwall.
Cornwall. Und er hatte beinahe jeden Stein in London umgedreht, um Leila zu finden. Auf die Idee, dass sie die Stadt verlassen haben könnte, war er nicht gekommen. Andererseits hatte er auch nicht gewusst, dass sie genauso wenig osmanischer Abstammung war wie er. Sie war Britin, ihre Aussprache makellos, wenngleich mit einem kaum wahrnehmbaren, sehr reizvollen Akzent versehen.
„Justin, was hat du jetzt wieder angerichtet?“ In der Stimme des ehrenwerten Peter Cushingham schwang milder Spott mit. „Ich dachte, ich könnte dich wenigstens eine halbe Stunde aus den Augen lassen, ohne dass eine Katastrophe eintritt.“
Justin blickte Pete an, den jüngsten Sohn von Lord Milton. In Kindertagen waren sie Freunde gewesen, und nach seiner Rückkehr hatte sich Peter als Erster eingefunden, um ihn willkommen zu heißen. Das Band der Freundschaft war stark genug gewesen, die Zeit und die Entfernung zu überdauern.
Peter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Justins Manieren aufzupolieren und ihn in die Gesellschaft einzuführen. Ein Umstand, der von ihm Geduld und Nachsicht in einem Ausmaß verlangte, das sogar einen Erzengel überfordert hätte.
„Es ist nichts geschehen“, erwiderte Justin. „Ich habe für einen Moment vergessen, die Spielregeln der Zivilisation zu befolgen und wurde unsanft darauf hingewiesen.“
„Was keine Antwort auf meine Frage ist.“ Peter schlenderte zu der Kutsche, die gerade vorfuhr. „Der Abend ist noch jung, was wollen wir unternehmen?“
„Lass mich am Alden Square aussteigen. Ich habe keine Lust, noch unter Menschen zu gehen.“
Pete runzelte die Stirn. „Das ist ja ganz etwas Neues. Ich frage mich wirklich, was da drinnen passiert ist.“
Justin lehnte den Kopf an die gepolsterte Rückwand der Kutsche und schloss die Augen. „Ich hab sie gefunden.“
Ungläubig beugte sich Pete vor. „Du hast sie gefunden? Die Frau, die du seit deiner Rückkehr suchst?“
Justin hatte ihm keine Einzelheiten über sich und Leila erzählt, nur, dass er bei der Überfahrt eine Frau kennen gelernt und sie in London aus den Augen verloren hatte.
„Ja.“
„Und weiter?“ Pete klopfte ungeduldig mit dem Absatz des Schuhs auf den Kutschenboden.
„Nichts weiter. Sie gibt vor, mich nicht zu kennen.“
„Wie heißt sie?“
Justin öffnete die Augen. „Das ist nicht wichtig.“
„Ich bekomme es ohnehin heraus, du kannst es mir also auch gleich sagen.“
„Dann finde es meinetwegen heraus.“ Er musste sich einen Plan zurechtlegen, denn er hatte nicht die Absicht, Leila so einfach entwischen zu lassen.
Nach einer schlaflosen Nacht stand Justin am nächsten Nachmittag vor dem Haus, das Lady Dexter laut seinen Nachforschungen bewohnte.
Der Butler nahm seine Karte entgegen und bat ihn in die Halle. Demnach hatten weder Lady Dexter noch Leila Anweisung gegeben, ihn nicht vorzulassen. Ein gutes Zeichen, sofern sie nicht einfach darauf vergessen hatten.
Lady Dexter öffnete die Tür des Salons, in den ihn der Butler geführt hatte. Sie sah aus wie eine nordische Göttin, kühl und unnahbar. Ihr Blick war dazu angetan, ihn in einen
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