Flucht aus der Zukunft
und schwemmte den Schmutz des Tages herunter. Er programmierte sein Abendessen. Dann wählte er ein Buch. Es ging wie meist um sein Lieblingsthema, die römische Geschichte: Tiberius bekämpfte den Aufstand des Sejanus. Das Aufeinanderprallen der verschiedenen Charaktere war faszinierend. Sejanus, der schlaue Günstling des finsteren alten Cäsaren, der schließlich zu weit ging und aus der Höhe seiner Macht durch Tiberius, den auf Capri lebenden alten Esel, herabgestürzt wurde.
Schnell hatte sich Brogg in jene fernen, erregenden Ereignisse eingelebt.
Wie hätte ich die Lage behandelt, wenn ich Sejanus gewesen wäre? fragte er sich. Zweifellos mit mehr Geschick. Ich hätte den Alten nie so herausgefordert. Brogg lächelte. Wenn er Sejanus gewesen wäre, hätte er den Thron erobert. Das stand fest. Andererseits ...
Andererseits war er nicht Sejanus. Er war Stanley Brogg vom Kriminalsekretariat. Daran war nichts zu ändern, dachte er. Man mußte eben das Beste daraus machen.
10
Die Nacht ergriff von der Stadt Besitz. Quellen wechselte die Kleider, nachdem er eine Brause genommen hatte, die fast den gesamten Wochenvorrat an Wasser kostete. Er wählte etwas grelle Kleider – eine Rebellion gegen die Gesellschaft, in der sich Judith befand. Die Leute, die dem Erbrechens-Kult beiwohnten, gaben sich mit Absicht stockkonservativ. Er verachtete ihren düsteren Puritanismus. Und so zog er eine Tunika an, die mit glitzernden Fäden durchwirkt war und je nach Drehung grellrot, violett oder blaugrün aufleuchtete.
Er nahm kein Abendessen zu sich. Das wäre im Hinblick auf die Zeremonie des Abends ein unverzeihlicher Faux pas gewesen. Dennoch mußte er seinen Glukosespiegel nach der Anstrengung des Tages wieder anheben. Ein paar Tabletten besorgten das. Erfrischt schloß Quellen sein Apartment ab und ging ins Freie. Er traf Judith erst bei der Versammlung. Vielleicht konnte er anschließend mit ihr heimgehen. Sie lebte allein, seit auch sie Klasse Sieben erreicht hatte. Es wäre vernünftig und gutbürgerlich, sie zu heiraten und eine gemeinsame Zweizimmerwohnung zu beziehen. Quellen wußte es. Aber bis jetzt hatten sich in ihm noch keine gutbürgerlichen Gefühle entwickelt.
Judith hatte ihm gesagt, daß die Sitzung im Klasse-Vier-Heim eines gewissen Brose Cashdan stattfand. Der Mann war Verwalter eines Stati-Feld-Bezirks. Für Quellen war es eine interessante Feststellung, daß ein Transport-Boß einem Kult dieser Art huldigte. Gewiß, der Erbrechens-Kult stand nicht auf der Verbotsliste. Er war vielleicht nicht ethisch, aber zumindest nicht staatsgefährdend wie manche andere. Nur hatte Quellen bei seinem bisherigen Umgang mit hohen Verwaltungsbeamten das Gefühl gehabt, daß sie sich keine Extravaganzen leisteten. Möglich, daß dieser Cashdan eine Ausnahme darstellte. Und Quellen war auf das Haus neugierig. Er hatte noch nicht viele Klasse-Vier-Häuser gesehen.
Brose Cashdans Villa lag gerade noch innerhalb des Appalachia-Bezirks, so daß Quellen sie nicht per Stati-Feld erreichen konnte. Er mußte statt dessen das Schnellboot nehmen. Schade. Er verschwendete damit eine halbe Stunde. Er programmierte seinen Weg nach Norden. Der Sichtschirm im Innern simulierte einen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft. Der Hudson lag silbrig im Mondschein. Dann kamen die Waldhänge des Adirondack-Reservats – ein paar tausend Morgen unberührter Wildnis inmitten der Stadt – und schließlich das gleißende Licht der Landerampe. Von der Rampe kam Quellen schnell zu Cashdans Heim. Er wußte, daß er etwas zu spät daran war, aber das bekümmerte ihn nicht weiter.
Es war eine tolle Villa. Quellen war auf eine solche Pracht nicht vorbereitet. Natürlich, Cashdan hatte nur das Recht auf einen einzigen Wohnsitz, im Gegensatz zu den Klasse-Zwei-Leuten, die verschiedene Häuser in der ganzen Welt haben konnten. Dennoch war es ein großartiges Gebäude. Es bestand in der Hauptsache aus Glas und synthetischen Säulen. Quellen zählte zumindest sechs Räume, einen kleinen Garten (!) und einen Landeplatz auf dem Dach. Er trat in die Vorhalle und sah sich nach Judith um.
Ein behäbiger Mann in den Sechzigern mit einer gestärkten weißen Tunika kam heraus, um ihn zu begrüßen. Quer über der Tunika war das goldene Band eingestickt.
»Brose Cashdan«, stellte sich der Fremde vor. Seine Stimme war tief und achtunggebietend. Quellen konnte sich vorstellen, daß der Mann eine Entscheidung nach der anderen mit fester Stimme
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